IoT verändert die Gesellschaft

Das Internet der Dinge hat das Potenzial, unsere gesamte Gesellschaft zu verändern. Da sind sich alle Teilnehmer des Round-Tables sicher. Nur bei der Frage, wie man den Durchbruch realisiert und möglichst viele Anwender gewinnt, gibt es verschiedene Ansichten.

Bisher hatten wir nur die Möglichkeit, über einige wenige Schnittstellen wie Smartphone, PC oder Tablet mit Daten zu interagieren“, so Rafi Haladjian, Inhaber des Unternehmens sen.se. „Alles andere in der Umgebung war ‚dumm‘, es gab keine Interaktion, um Daten und Wissen zu erfassen.“ Das ändert sich jetzt mit dem Internet der Dinge: Die Vielzahl von Daten, die von den unterschiedlichsten Dingen erfasst werden, ist die Basis für ein umfassendes Wissen. Dieses Wissen geht weit über die Informationen hinaus, die heute von Computern und Smartphones verarbeitet und zur Verfügung gestellt werden. „Was wir heute schon beobachten können, ist, dass die Umgebung selbst intelligent wird“, so Matthias Dietel, Leiter Technical Sales bei IBM. Allerdings ist der Begriff Internet der Dinge im Grunde genommen auch schon wieder überholt, wie Bernd Heinrichs, Managing Director „Internet of Everything“ bei Cisco, erklärt: „Es geht um mehr, als nur darum, Gegenstände über traditionelle Schnittstellen zu vernetzen.“ Die Diskussionsrunde spricht daher lieber von einem „Internet of Everything“.

Systeme werden intelligent

Dabei gehören neben „Dingen“ auch intelligente Prozesse dazu, wie Heinrichs weiter erläutert: „Das bedeutet, dass die gesammelten Daten nicht pur weitergegeben werden, sondern gefiltert. Nur relevante Informationen werden den richtigen Personen oder dem richtigen Gerät zur richtigen Zeit an den richtigen Ort geliefert.“ Dann sind auch automatische Funktionen möglich, das heißt, Geräte treffen Entscheidungen, ohne dass der Mensch involviert sein muss. „Zum Internet der Dinge gehören auch Anwendungen, bei denen wir das Licht über das Smartphone anschalten“, so Haladjian. „Aber die Intelligenz im System ist die des Menschen, der immer noch entscheidet, ob er das Licht anmachen will oder nicht. Interessanter sind Systeme, die ihr eigenes Verhalten entwickeln und Dinge tun, an die ich als Nutzer gar nicht denke – das ist der das Spiel verändernde Teil des Internets der Dinge.“

Preiswerte, für alle verfügbare Technik ist die Voraussetzung

Basis eines solchen Systems sind die unterschiedlichsten elektronischen Bausteine – Sensoren, Mikroprozessoren, Energieversorgung oder Kommunikationsmodule. Diese Technologien sind schon heute vorhanden, wie Karim Khebere, Technical Director EMEA bei EBV Elektronik, bestätigt: „Diese Technologie muss allerdings für jeden zugänglich sein. Wir müssen sicherstellen, dass auch Startups, die die „Großen“ von morgen sein können, in den Dialog mit den Herstellern der Technologie kommen. Denn das Internet der Dinge kann nur funktionieren, wenn es auf breiter Front vom Markt übernommen wird.“ Dafür ist es aber auch wichtig, dass die Technologie preiswert ist, wie Rafi Haladjian betont: „Wenn zum Beispiel Bluetooth oder Wi-Fi eine ähnliche Preisentwicklung durchlaufen, wie wir es bei den Mikroprozessoren erlebt haben, wird jeder seine Produkte vernetzen.“

Die Vorteile müssen besser kommuniziert werden

Wichtig für die Verbreitung des Internets der Dinge ist aber auch Vertrauen, wie Rob van Kranenburg betont: „Die wirklichen Fragen betreffen nicht die Technologie, sondern die Akzeptanz in der Gesellschaft. Doch leider herrscht zurzeit wegen der aktuellen NSA-Affäre ein gewaltiges Misstrauen gegenüber dieser Technologie.“ Van Kranenburg, Koordinator der Projektbeteiligten bei IoT-Architecture (IoT-A), dem größten Projekt der Europäischen Union zum Thema Internet der Dinge, sieht eine große Mitschuld für dieses mangelnde Vertrauen auch in den Politikern: „Beamte verstehen das Internet der Dinge nicht wirklich. Sie reden in einer Art und Weise von Sicherheit und Gefahren, welche die potenziellen Nutzer vertreibt. Gleichzeitig können sie nicht klarmachen, welche Vorteile, welcher Nutzen für die Konsumenten darin liegt.“ Van Kranenburg würde daher gerne sehen, dass Techniker hier mehr Verantwortung übernehmen und das Potenzial der neuen Technologie in der Öffentlichkeit stärker herausstellen. „Wenn wir das Feld den Politikern überlassen, dann werden wir das Internet der Dinge verlieren.“

Nicht überall ist höchste Sicherheit erforderlich

Allerdings sehen nicht alle Round-Table-Teilnehmer das Thema Sicherheit als dermaßen entscheidend für den Erfolg des Internets der Dinge. Denn es besteht schon heute die Möglichkeit, kritische Anwendungen in geschlossenen Systemen zu betreiben. Bernd Heinrichs: „Das gleicht dann dem Virtual Private Network, wie wir es aus dem Internet kennen. Ich muss erst über das Thema Sicherheit nachdenken, wenn ich so ein System für andere öffne.“ Schon heute realisiert Cisco das Internet der Dinge als abgegrenztes, geschlossenes System. Das Unternehmen hat Mitte 2013 bereits einen Bahnhof mit einem IP-basierten System ausgestattet. Hierüber sind Züge und Signale, tausende von Sensoren und Aktuatoren vernetzt. „Das Netzwerk ist aufwändig gesichert und erlaubt bei der Steuerung keinerlei Interaktion mit irgendeinem Konsumenten“, erläutert Heinrichs. „Das ist ein abgeschlossenes Internet der Dinge in einer extrem sicheren Ausführung.“
Außerdem gibt es viele Funktionen und Anwendungen, die einfach nicht sicherheitsrelevant sind. Rafi Haladjian nennt als Beispiel Geräte wie Wi-Fi-Personenwaage oder Aktivitäts-Tracker, welche die Bewegung des Nutzers über den Tag aufzeichnen, zum Beispiel Schritte zählen und den Kalorienverbrauch berechnen: „Die NSA interessiert es nicht, ob ich Übergewicht habe. Es gibt genug -weitere Beispiele für derartig unkritische Anwendungen.“ Bei der Frage der Sicherheit muss also unterschieden werden zwischen Geschäftskunden und privaten Nutzern, deren Sicherheitsansprüche ganz unterschiedlich sind. Und auch nicht alle Anwendungen erfordern eine gleich hohe Sicherheitsanforderung – Rob van Kranenburg schlägt daher vor, je nach Nutzung verschiedene Sicherheits- bzw. Privacy-Level zu definieren: „So könnte man beim Einkaufen eine andere Sicherheitsstufe wählen als zum Beispiel zuhause“.

Nutzer wollen gewonnen werden

Doch für Rafi Haladjian ist das Thema Sicherheit bei der erfolgreichen Etablierung des Internets der Dinge eher zweitrangig – er will die Menschen durch den Nutzen der Technologie gewinnen. Seine Hoffnung ist, dass die Menschen irgendwann genauso „süchtig“ nach den Funktionen der allumfassend vernetzten Welt werden, wie sie es heute bereits nach Smartphone und Tablet-PC sind. „Das erste Stadium bei der Verbreitung des Internets der Dinge ist es, dass die Menschen nicht mehr ohne die Möglichkeiten leben wollen, alles in der Hand und Zugang zu fast allem zu haben. Dann folgt ein Stadium, in dem die Menschen nicht mehr auf das Wissen verzichten wollen, das ihnen die vernetzte Umwelt liefert.“ Den Einstieg in diese Welt sieht der französische Unternehmer in kleinen Anwendungen wie zum Beispiel den Aktivitäten-Tracker Fitbit. „In einem kleinen Maßstab wird es dem Nutzer leichterfallen, seine Hemmungen bezüglich der vernetzten Welt zu überwinden. Später wird er dann auch andere Applikationen ausprobieren wollen, die mit mehr Daten arbeiten.“ Sein Rezept, um das Internet der Dinge zum Erfolg zu führen, ist, möglichst viele Nutzer durch „sexy“ Anwendungen und Ideen zu gewinnen. Erst wenn diese Nutzer die Technologie akzeptieren und für vernetzte Geräte und Dienste bezahlen, wird es Zeit, über die Infrastruktur nachzudenken. Im Bereich der gewerblichen und industriellen Kunden stehen für Bernd Heinrichs vor allem aber betriebswirtschaftliche Argumente im Vordergrund: „Wir sind überzeugt, dass ein Unternehmen durch Investitionen in das Internet der Dinge seine Prozesse optimieren und Kosten sparen kann. Unternehmen weltweit können so Milliarden an Dollar einsparen.“

Von oben übergestülpt …

Auch wenn Unternehmen viel Geld sparen können, bei Privatkunden sieht Rob van Kranenburg keine Motivation für den Einstieg in das Internet der Dinge: „Die bisherigen Anwendungen dort sind nur Kleinkram, damit verdient niemand viel Geld. Die Endanwender sehen noch keine Notwendigkeit für das Internet der Dinge.“ Seiner Meinung nach sollte das Internet der Dinge daher von oben angeschoben werden. Ein Vorbild sieht er in China: „Hier werden schon seit 15 Jahren Smart Cards eingesetzt – Karten mit einem Chip, mit denen man einkaufen oder die Haustür öffnen kann, die aber auch als Pass fungieren. Das ist der Weg, den wir auch in Europa gehen könnten – ein Objekt wie einen intelligenten Pass, der auf eine gemeinsame Plattform zurückgreift.“ In dieser Plattform sieht van Kranenburg die Basis für ein übergreifendes Internet der Dinge. Denn dann wären plötzlich nicht nur einige Technikbegeisterte in das Netz eingebunden, sondern ganze Staaten mit Millionen oder – im Falle von China – Milliarden von Nutzern. „Wenn wir nicht eine derartig übergreifende, zentral kontrollierte Plattform haben, befürchte ich, dass wir hunderttausende kleine verschiedene Netze haben.“ Sein Ziel einer smarten Gesellschaft hält er dann für nicht erreichbar.

… oder Entwicklung von unten?

Mit dieser Idee stößt van Kranenburg jedoch auf den Widerspruch der anderen am Tisch: „Ein reguliertes Internet der Dinge, wie es China anscheinend aufbauen will, wird niemals funktionieren“, ist sich Bernd Heinrichs sicher. Rafi Haladjian sieht auch eher eine Entwicklung wie beim „normalen“ Internet: „Es wurde von keinem kontrolliert und ist aus verschiedenen Initiativen entstanden. Dabei kam auch etwas heraus, das funktioniert.“ Und Initiativen gibt es heute schon genug, wie Bernd Heinrichs berichtet: „Im Silicon Valley zum Beispiel schießen Startups mit Ideen zum Internet der Dinge wie Pilze aus dem Boden. Sie warten nicht auf irgendeine Plattform.“ Doch genau darin sieht van Kranenburg die Gefahr: „Wenn wir keine Roadmap für die nächsten zehn Jahre haben, werden wir hunderte Startups mit hunderten eigenen Protokollen für das Internet der Dinge habe.“ Schützenhilfe bekommt er von Matthias Dietel: „Wir müssen eine Steuerung oder Führung dafür haben. Zumindest müssen wir ein paar Richtlinien erstellen.“ Die müssen aber nicht zwangsläufig von Regierungen erstellt werden – so versteht sich IBM zum Beispiel als technischer Integrator, der die unterschiedlichen Akteure verbindet. Unter der Smarter Planet Strategie stellt das Unternehmen die notwendige Infrastruktur bereit. Und auch Cisco bietet eine derartige Plattform: Das Unternehmen baut in Deutschland eine eigene Forschungs- und Entwicklungsabteilung auf. „Sie soll auch ein Inkubations-Zentrum für Firmen sein, die Anwendungen für das Internet der Dinge entwickeln, wobei Cisco die Plattform stellt“, so Heinrichs. Und plötzlich zeigt sich, dass Rob van Kranenburgs Vorstellung und die von Heinrichs und Dietel doch nahe beieinanderliegen: „Wenn Cisco diese Plattform ein wenig weiter spannen würde, um den Endverbraucher mit einzubeziehen, dann hätten wir doch die Basis. Wir brauchen nur 20 große Player, die ein gemeinsames, kohärentes System aufbauen, um die Basis für ein umfassendes Internet der Dinge zu legen.“ Zumindest im industriellen Bereich geschieht das derzeit sogar schon, wie Dietel betont: „Für die Industrie 4.0 haben sich bereits große Unternehmen zusammengetan, um eine gemeinsame Plattform aufzubauen.“ Auch eine gemeinsame Sprache für das Internet der Dinge zu finden, scheint nicht wirklich ein Problem zu sein, wie Bernd Heinrichs erklärt: „Alle Protokolle für das Internet der Dinge werden auf IPv6 basieren – selbst die Zahnbürste wird unter dem Internet-Protokoll der nächsten Generation laufen.“

Die Welt wird sich verändern

„Mit einem derartigen, alles umfassenden Internet der Dinge wären auf Echtzeit basierende Prozesse zur Entscheidungsbildung möglich, die unser gesamtes politisches System in Frage stellen“, so Rob van Kranenburg. „Wir brauchen dann nicht mehr die zahlreichen Beamten und Politiker, die unsere Gesellschaft steuern wollen.“ Auch Matthias Dietel sieht das ähnlich: „Das Internet wird das Betriebssystem der Gesellschaft werden. Es wird sich ein globales Dorf entwickeln – letztendlich muss man sehen, welche Rolle die Regierungen dabei spielen.“ Das Internet der Dinge könnte also dazu führen, dass die alten historischen Systeme sich grundlegend verändern. „Wir glauben, dass die großen Metropolen die Länder der Zukunft sein werden“, so Bernd Heinrichs. „In 50 Jahren könnten wir sogar überhaupt keine Staaten mehr haben.“ Aber das Internet der Dinge bedeutet nicht nur für die etablierten Staaten Veränderungen. Karim Khebere erinnert an Staaten in Afrika, Asien oder Südamerika: „Das Internet der Dinge wird ihre Entwicklung so antreiben, dass sie die Industrienationen deutlich schneller einholen werden. Es ist ein Phänomen, das über die Technologie hinausgeht!“

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