Städte entscheiden über Klimawandel

Im Gespräch mit Ana Toni, Vorstandsvorsitzende von Greenpeace International

Mit dem Aufkommen der Megastädte ist es einfach, sich Städte als größte Bedrohung für die Umwelt vorzustellen. Doch Ana Toni, Vorstandsvorsitzende von Greenpeace, glaubt, dass Städte weltweit zu positiven ökologischen Veränderungen führen können.

Sie leben in Rio de Janeiro – diese Stadt ist nicht wirklich ein Beispiel für Nachhaltigkeit oder Umweltfreundlichkeit, oder?
Ana Toni: Wenn wir Nachhaltigkeit im weiten Sinne betrachten, hat Rio ein großes Potenzial, Nachhaltigkeit zu erreichen. Wir haben Berge, große Wälder und eine riesige Bucht. Unsere Energiequelle ist bereits ziemlich grün. Wie in jeder Stadt gibt es Herausforderungen und auch große Chancen. Die Natur hat es mit uns sehr gut gemeint, doch bei ihrer Erhaltung haben wir keinen guten Job erledigt.

Ist Rio ein Beispiel für die Probleme, mit denen Großstädte in Zukunft konfrontiert werden?
A. T.: Vor den Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen, steht jede größere Stadt in einem Entwicklungsland. Wir haben bessere Chancen, sie zu bewältigen, da die Natur uns gegenüber so großzügig gewesen ist. Wir haben Probleme mit dem Verkehr, der urbanen Mobilität und der Stadtplanung, aber Rio hat eine echte Chance, damit fertig zu werden.

Warum sind Städte für die Menschen immer noch so attraktiv? Warum ziehen immer mehr Menschen dorthin?
A. T.: In Brasilien leben rund 86 Prozent der Menschen in Städten. Das liegt an den sozialen und wirtschaftlichen Möglichkeiten und daran, dass im Vergleich zu einem Leben auf dem Land der Lebensstil dort als besser empfunden wird. Ich glaube, ohne die wirtschaftlichen und sozialen Chancen würden die Menschen das Leben auf dem Land vorziehen. Der Zustrom in die Städte wurde gestoppt und es gibt eine leichte Bewegung zurück aufs Land.

Sehen Sie als Umweltschützerin Städte mit mehr Skepsis? Ist das Leben auf dem Land umweltverträglicher?
A. T.: Ich denke, je näher wir an der Natur leben, desto besser begreifen wir, wie wichtig die Natur für uns ist und desto bessere Umweltschützer werden wir – aber dazu müssen wir nicht alle aufs Land ziehen. Wir tendieren dazu, nicht zu wissen, woher unsere Nahrung und unsere Energie kommen. Wir tendieren dazu, die Natur zu nutzen, ohne uns dessen wirklich bewusst zu sein. Viele Lösungen können jedoch helfen, diese Tatsachen zu ändern: Landwirtschaft in den Städten und städtischen Randgebieten, dezentrale Solar­energiegewinnung mit Photovoltaikpaneelen, eine Stadtplanung, die den nicht motorisierten Verkehr favorisiert oder Strategien für die Wiederverwendung von Wasser.

Welche Rolle spielen Städte im weltweiten Kampf gegen den Klimawandel?
A. T.: Vielleicht die wichtigste Rolle von allen. Städte sind die Orte, an denen wichtige Maßnahmen gegen den Klimawandel ergriffen werden müssen. Wir haben den Klimawandel auf internationaler und nationaler Ebene in den Fokus genommen, aber in Wirklichkeit ist es die Stadt, an deren Beispiel wir den Menschen den Klimawandel vermitteln können. Städte sind die größten Verbraucher von Energie und von landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Waren, was zur Zerstörung der Wälder führt – zwei weitere Probleme im Mittelpunkt der Klimaherausforderung. Daher glaube ich, dass wir diesen Kampf auf Stadtebene gewinnen oder verlieren werden.

Sind sich die Menschen der Bedeutung der Städte bewusst??
A. T.: Nein, noch nicht. Das UN-System räumt den Städten noch keinen wichtigen Stellenwert ein. In den Ländern haben Städte bei Gesetzen zum Klimawandel kein großes Mitspracherecht. Selbst auf Regierungsebene sind wir nicht in der Lage gewesen, Städte mit einzubinden und haben die Menschen im Stich gelassen.

SmartCity_Innovator_Greenpeace

Wo sehen Sie für die Städte den wichtigsten Ausgangspunkt zur Reduzierung von Emissionen? 

A. T.: Ich würde bei der urbanen Mobilität beginnen und dann mit der Stadtplanung, der dezentralen Solarenergiegewinnung und den Parks fortfahren. Weniger Zeit im Stau und in verschmutzter Luft verbringen und mehr zu Fuß gehen oder Rad fahren, das verleiht Ihnen Energie.

Viele Menschen setzen Umweltschutz mit Ablehnung des Fortschritts gleich – welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach Technologie beim Erreichen des Ziels, mehr Nachhaltigkeit zu schaffen?
A. T.: Technologie spielt eine wichtige Rolle, aber nicht von allein. Viele Gruppen meinen, dass Technologie eine Lösung dafür sein kann, die Denkweise der Menschen und ihre Konsumgewohnheiten zu ändern: Das stimmt nicht. Technologie ist nur eine Ergänzung zu all diesen Änderungen. Natürlich ist Technologie eine wichtige Komponente, aber nicht von sich aus. Sie muss wirklich mit politischen und sozialen Veränderungen sowie Änderungen im Konsumverhalten einhergehen.

Wie beurteilen Sie die Idee von Smart Cities und sind diese nur in reichen, hoch industrialisierten Ländern möglich?
A. T.: Intelligente Städte sind vor allem für Menschen gemacht und weniger für Autos und Technologien. Städte, die eine aktive und öffentliche Mobilität haben, und Städte, die Menschen und ihr Wohlbefinden in den Mittelpunkt der Planung stellen. Alle Städte können intelligente Städte werden, nicht nur die wohlhabenden. Rio braucht nur ein paar Dinge zu tun, um eine intelligente Stadt zu werden. Mehr Investitionen in öffentliche Verkehrsmittel sind der Schlüssel dazu, denn dadurch ändern sich die Beziehungen der Menschen zur Stadt.

Ist Greenpeace Teil des Smart-City-Projekts?
A. T.: Ja, wir fangen an, Megastädte wie Mexiko-Stadt, Peking und São Paulo eingehender zu betrachten. Durch Veränderungen in diesen Städten, die eine Menge an wirtschaftlicher und politischer Macht konzentrieren, können wir helfen, umfassendere Veränderungen auf der ganzen Welt einzuleiten. Wir sind dabei, einige interessante Arbeiten zur Rückeroberung der Stadt für die Menschen zu starten, bei denen es um entscheidende Themen wie Mobilität, Wasser, Solarenergie, Grünanlagen sowie Nahrungsmittelproduktion und -verteilung geht. Hierbei arbeiten wir mit anderen nicht staatlichen Organisationen, sozialen Bewegungen, Wissenschaftlern und Regierungsmitgliedern zusammen. Mit Kampagnen wie dieser können wir einen realen und unmittelbaren Nutzen erzielen. Traditionell sind wir gut in der Kampagnenarbeit für die Arktis oder den Amazonas, gegen bestimmte Produkte oder grenzüberschreitende Produkte. Städte sind da viel komplexer und man braucht andere Aktionsinstrumente. Diese neuen Instrumente entwickeln wir jetzt. Wir sind offen für ein Engagement auf diesem Gebiet und freuen uns darauf.

Sie sind nicht nur im Umweltschutz aktiv, sondern engagieren sich auch für Menschenrechte und gegen Armut. Außerdem sind Sie als Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlerin tätig. Können Smart Cities auf diesen Gebieten einen Beitrag leisten – wie zu mehr Demokratie, Gleichberechtigung und gegen Armut?
A. T.: Ja. Meiner Meinung nach ist die Trennung zwischen Entwicklung und Umwelt sowie zwischen Menschenrechten und Umwelt falsch, im wahren Leben gibt es sie nicht. Wenn wir über urbane Mobilität sprechen, sprechen wir über das Recht auf Mobilität oder den Klimawandel oder Gesundheitsfragen? Offensichtlich sprechen wir über all diese Fragen auf einmal. So sehe ich mich nicht nur als Umweltschützerin, sondern auch als Menschenrechtsaktivistin und als Frauenrechtlerin: Dies hängt alles miteinander zusammen. Wir müssen uns auf Bereiche konzentrieren, in denen man die meisten Änderungen erzielen kann. Städte sind ein wunderbarer Ort hierfür, wegen der Anforderungen an Hygiene, Abwässer, Verschmutzung, urbane Mobilität und Unterkunft. All diese Themen kann man gleichzeitig angehen.

Haben Sie Angst, dass die Datenmenge, die in Smart Cities erfasst wird, gegen die Interessen der Menschen eingesetzt werden kann?
A. T.: Das Problem ist nicht unbedingt die Erhebung von Daten, sondern zu gewährleisten, dass jeder klar versteht, wer was sammelt, wie es erfasst und wie es verwendet wird. Wenn Daten auf transparente Weise und für die Öffentlichkeit gesammelt und genutzt werden, ist das großartig.

Gibt es bereits eine Stadt, die ihre Vorstellungen von einer nachhaltigen, umweltfreundlichen Stadt darstellt?
A. T.: Ich mag Hamburg sehr, eine Mischung aus Moderne und Natur. Natürlich gibt es Städte mit einer überzeugenderen ökologischen Erfolgsbilanz und die Luftqualität ist ein Problem, aber es ist eine der grünsten Städte in Europa. Mit Fuß- und Radwegen steht diese Stadt bei der Mobilität ganz groß da. Obwohl Hamburg noch seinen Teil an Herausforderungen zu meistern hat, ist es für mich am nächsten an einer intelligenten Stadt. Mit einer etwas besseren Planung könnte Rio eine intelligente Stadt sein.
Es ist eine schöne Herausforderung, Rio zu einer intelligenten Stadt zu machen. Wir sollten dies anstreben.

Wenn dies der Fall ist, können Sie sich vorstellen, nach Hamburg zu ziehen?
A. T.: Auf jeden Fall, ich lebte drei Jahre lang in Hamburg, liebte es und würde sofort wieder dorthin ziehen.

Sprechen wir über die Zukunft in 50 Jahren: Wie sieht Ihr perfektes Bild von einer Stadt aus?
A. T.: Das ist eine Stadt, in der alle Einwohner ihre Rechte in Anspruch nehmen und komfortabel leben können, ohne die Natur zu schädigen. Glücklicherweise hat meine Familie vollen Zugriff auf alles, was die Stadt zu bieten hat, und ich wünsche mir, dass dies jedem Menschen offensteht – auf nachhaltige Weise.
(Bildnachweis: Fotolia: marchello74; Unsplash: Nick Scheerbart, Vanessa Bumbeers, Victor Abrantes)

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