Kaum an einem anderen Ort ist das Internet der Dinge im Alltag so untrennbar mit den Menschen verbunden wie in einer modernen Stadt. Professor Carlo Ratti untersucht, welchen Einfluss diese neue Technologie auf unser Verständnis und die Gestaltung von Städten sowie auf unsere Lebensweise hat. Der Architekt und Ingenieur arbeitet in Italien und lehrt am Massachusetts Institute of Technology (MIT), wo er auch das SENSEable City Lab leitet. Er gilt als einer der Vordenker rund um das Thema Leben in „intelligenten Städten“ der Zukunft. Forbes hat ihn 2011 auf die Liste der „Namen, die man kennen muss“ gesetzt. Er ist Mitglied des Global Agenda Council für Stadtmanagement des Weltwirtschaftsforums. Ratti hegt schon seit langem den Traum, dass Objekte und die Umgebung mithilfe moderner Netzwerktechnologie auf Menschen und ihre Aktivitäten reagieren können. Dank des Internets der Dinge wird dieser Traum jetzt wahr. In unserem Interview erzählt uns Professor -Ratti, was ihn so an der interaktiven Stadt fasziniert und welchen Einfluss diese auf unseren Alltag haben wird.
Gibt es eine Stadt, die Sie besonders begeistert?
Carlo Ratti: Es gibt keine bestimmte Stadt, die ich als mein „perfektes Stadtgebiet“ bezeichnen würde oder von der ich ganz besonders begeistert bin. Meine ideale Stadt wäre eine Collage: das Klima von Neapel, die Topografie von Kapstadt, der Schmelztiegel von Sydney, die Architektur von Manhattan, das fieberhafte Treiben von Hongkong und das überschäumende Nachtleben von Rio de Janeiro!
Ich entdecke aber immer wieder neue Städte und Plätze auf der ganzen Welt, in die ich mich dann gerne verliebe. Ich pendele ständig zwischen den Städten hin und her, in denen wir Niederlassungen haben – London, Cambridge, Turin und Singapur – und den Orten, an denen wir jeweils an Projekten arbeiten. Das könnte man wohl auch als Collage bezeichnen.
Wie hat sich das Verständnis der modernen Stadt in den letzten Jahren verändert?
C.R.: „Modern“ ist ein interessantes Wort. Seine Definition – oder vielmehr das Bedeutungskonzept von „modern“ – unterliegt ständigem Wandel. Die moderne Denkweise in Bezug auf Städte ist dynamischer und aktiver als der Modernismus es je gewesen ist.
Was bedeutet das für die Stadt der Zukunft? Oberflächlich gesehen wird sich die Stadt von morgen gar nicht so sehr von der heutigen unterscheiden. Genau wie die Römer vor 2.000 Jahren brauchen wir ein Dach über dem Kopf, festen Boden unter den Füßen, auf dem wir stehen können, Transportmittel und Fortbewegungsmöglichkeiten usw. Aufgrund der innovativen Weise, in der wir Informationen sammeln und austauschen, werden wir jedoch ein völlig anderes Leben führen – und das ist meiner Meinung nach die größte Herausforderung für die Architekten und Designer von morgen. Wie kann sich die Architektur möglichst unauffällig in die neue Lebensweise einfügen?
Welche Rolle spielt dabei das Internet der Dinge?
C.R.: Das Internet der Dinge ist eine spannende Sache. Es steht noch ganz am Anfang. Allerdings zeichnet es sich bereits ab, wie sich dadurch die täglichen Interaktionen zwischen den Menschen und ihrer Umgebung verändern werden. Mithilfe neuer Technologie, zum Beispiel RFID-Tagging, können wir nahezu jeden Gegenstand oder jede Person – von Frachtschiffen bis hin zu Suppenlöffeln – mit dem Internet verbinden. Damit lässt sich Müll vermeiden, beispielsweise wenn wir genaue Informationen zum Konsum von Produkten haben, oder auch ein anderes Verständnis von Besitz gewinnen: Warum sollte jemand einen neuen Hammer kaufen, wenn sein Nachbar einen besitzt, den er gerade nicht braucht?
Unlängst lief unser Projekt „Trash Track“. Dabei haben wir in der Stadt Seattle in Tausende zufällig ausgewählte Gegenstände aus dem Müll (Turnschuhe, Kaffeedosen, Bananenschalen, Handys usw.) kleine Chips eingesetzt. Einige Wochen lang beobachteten wir nur, wie der Müll quer durch die USA gefahren wurde. Dabei waren wir ziemlich schockiert von der Erkenntnis, was für ein ungeheures Netz mit der Müllbeseitigung beschäftigt ist. Wir wissen recht viel über die Produktlieferkette, denken aber nur selten darüber nach, wie viel Energie in den Transport der Dinge fließt, die wir wegwerfen. Und genau solche Daten können wir über das Internet der Dinge erheben.
Im Grunde sind wir flächendeckend von digitaler Technologie umgeben – einer gigantischen, intelligenten Echtzeitinfrastruktur, die von immer günstiger werdenden Smartphones und Tablets flankiert wird. Parallel dazu bündeln offene Datenbanken, die jeder lesen und der jeder Inhalte hinzufügen kann, Informationen aller Art. Außerdem werden Daten von einem wachsenden Netzwerk aus Sensoren passiv generiert. Nachdem diese verstärkt bei innovativen Tools für den privaten und öffentlichen Zugriff zum Einsatz kommen, werden unsere Städte immer mehr zu „Freiluftcomputern“.
Warum ist es so wichtig, das Leben in der Stadt in so vielen Facetten zu erfassen, wie Sie es an Ihrem Institut in verschiedenen Projekten bereits realisiert haben?
C.R.: Eine städtische Umgebung lässt sich nur verändern, wenn man sie genau kennt. Dank der jüngsten technologischen Fortschritte besitzen wir ein ungemeines Wissen über die Geschehnisse in unserer Umgebung, insbesondere was die Städte anbelangt.
Wir kennen heute die Bewegungsabläufe der Menschen, wo sie am liebsten zu Abend essen, wir kennen ihr Einkaufsverhalten und wissen, wo der Müll landet, nachdem sie ihn weggeworfen haben. Auf der Grundlage dieser gigantischen Datenmenge können wir fundiertere Entscheidungen treffen und intelligente Systeme für den Einsatz in Städten entwerfen. Wir bezeichnen dies als „Erkennen“ und „In Gang bringen“ – eine ständige Schleife, bei der eins zum anderen führt.
Was fasziniert Sie persönlich an der interaktiven Stadt?
C.R.: Warum müssen die Dinge, die uns umgeben – die Mauersteine, die Theken, die Bürgersteige –, stumm sein? Bereits beim Entwurf und Bau ist ihr halbes Leben vorbestimmt, und es setzt bereits der langsame Prozess des Verfalls ein. Mich fasziniert, dass diese Dinge durchaus das Potenzial besitzen zu reagieren: eine dynamische Umgebung, in der beispielsweise ein Einkaufswagen all die Funktionen aufweist wie Ihr iPhone und Ihnen beim Einkauf hilft. Heute schon wissen wir, dass die Gegenstände und Produkte, die unser Leben ausfüllen, uns zu ganz besonderen Erfahrungen verhelfen können. Nicht nur was Effizienz oder Nachhaltigkeit anbelangt, sondern auch im Hinblick auf die Gemeinschaft und die Geselligkeit. Technologie kann und muss Menschen zusammenbringen.
Welche Informationen werden in der Stadt von morgen aufgezeichnet?
C.R.: Wir sammeln keine Informationen über die Stadt an sich – sondern vielmehr über die Menschen, die darin leben. Sie sind der Fingerabdruck jedes Einzelnen in einem gemeinsam bewohnten Raum.
Fast alles, was wir tun, wird in irgendeiner Form digital aufgezeichnet. Die meisten dieser Daten werden jedoch bisher noch ignoriert. Sofern nicht direkt vermarktbar, gerät diese Flut an ermitteltem menschlichem Verhalten meist in Vergessenheit und belegt irgendwo einfach nur Serverspeicherplatz.
Wir haben bisher noch nie da gewesene Bedingungen geschaffen, die einen „umfassenden Abruf“ ermöglichen. Wir haben eine digitale Kopie der physischen Welt. Wenn wir diese instrumentalisieren wollen, können wir innovative Möglichkeiten finden, diesen Fingerabdruck in die von uns erschaffene Umgebung zu integrieren.
Inwieweit geht dies in einer solchen Stadt zu Lasten der Privatsphäre des Einzelnen?
C.R.: Die Daten sind nicht streng auf die Stadt beschränkt – es handelt sich vielmehr um einen breiter angelegten kulturellen Trend. Heute verbringen wir genauso viel Zeit im Internet wie mit Gesprächen. Und das bietet eine unglaubliche Gelegenheit zum Austausch sowie zur Bündelung von Ideen und spornt zu neuer Ideenfindung an, egal an welchem Ort auf dieser Welt sich die Beteiligten gerade aufhalten.
Alle diese Interaktionen hinterlassen eine digitale Spur, ob in Facebook, über Gmail, Skype, Kreditkarte oder Handy. Dies ist nicht unbedingt Grund zur Besorgnis im Hinblick auf die Privatsphäre oder lässt gleich an „Big Brother“ denken – eine heiß diskutierte Frage nach den Ereignissen dieses Jahres. Daten zu Verhaltensweisen können auf einer gebündelten Makroskala – den umfassenderen Aktivitätsmustern und Signaturen der Menschheit – viel mehr bewirken als die Einzelfälle der Privatsphäre.
Dies wirft aber neue Fragen auf, und zwar in einer Form, mit der unsere Gesellschaft und unser politisches System bisher noch nicht fertig geworden sind: Wer kann auf die Daten zugreifen? Wo sind sie gespeichert? Können diese jemals wieder gelöscht werden?
Überall Sensoren – ist das nicht ein eher furchteinflößendes Szenario? Möchten Sie wirklich in einer Stadt leben, in der jedes Detail gemessen wird?
C.R.: Auch hier sind das Erfassen von Daten und deren Nutzbarmachung für die Stadt ein Prozess der Bündelung. Wir erforschen in unserem Labor die breiter angelegten Trends – Strömungen sowie Muster und Fluss –, die zeigen, wie sich die Menschheit kollektiv verhält oder reagiert. Das hat überhaupt nichts mit den persönlichen Daten des Einzelnen zu tun. Mit dem Twitter-Feed einer Person oder ihrem Tageseinkauf könnten wir überhaupt nichts anfangen. Wir sind auch nicht daran interessiert, diese Daten aufzuzeichnen und herauszugreifen.
Das, was wir suchen, ist tatsächlich meist bereits öffentlich verfügbar. Wir stellen einfach nur die Frage: Wie kann man die vorhandenen Daten optimal nutzen? Was können die Menschen damit Sinnvolles anfangen?
Welche Möglichkeiten bieten Ihre Projekte für ein besseres Leben in der Stadt?
C.R.: All unseren Projekten ist gemein, dass dabei der Mensch und nicht die Technologie im Fokus steht. Die neuen Daten oder Systeme oder digitalen Innovationen, die wir nutzen, sind lediglich ein Werkzeug für ein besseres Verständnis der Menschen und ihres Verhaltens und letztendlich um die Städte umweltfreundlicher und geselliger zu gestalten. Uns geht es vor allem um die Menschen.
Wir möchten gerne mit Behörden, Organisationen oder Firmen zusammenarbeiten, um „neu konzipierte“ oder „Open Source“-Systeme einzurichten. So können die Benutzer selbst Veränderungen herbeiführen und dafür sorgen, dass alles um sie herum dynamisch funktioniert. Wenn wir die richtigen technischen Systeme schaffen können (also intelligente Städte), können Sie zusammen mit den Menschen in Ihrem Umfeld Probleme rund um Energie, Verkehr, Gesundheitswesen, Lebensmittelverteilung und Bildung lösen. Ich bin sicher, dass diese Lösungen wesentlich wirkungsvoller sind als die traditionellen „Top-Down“-Initiativen, die sich immer nur um ein kleines Problem kümmern.
In neuen „verkabelten Städten“ könnten die Bewohner eine leistungsstarke verteilte Intelligenz aufbauen und zu einer ganz neuartigen Form des Aktivismus beitragen. Das ist der optimale Demokratieentwurf.
Wenn Sie an die Stadt von morgen denken, was ist dort besser als in den heutigen Städten?
C.R.: Ihre Umgebung wird verstärkt auf Ihre ganz einzigartige Signatur reagieren. Wichtiger aber noch, sie wird optimal auf die umfassenderen menschlichen Muster in Ihrem Umfeld abgestimmt sein, die Ihnen andernfalls vielleicht noch nicht einmal bewusst würden. Aber wie schon gesagt, die Städte an sich werden kaum anders aussehen. Dach über dem Kopf bleibt Dach über dem Kopf, und Bewegung bleibt Bewegung. Aber unser Lebensstil ändert sich.