Es gibt nicht den einen Halbleiter

Interview mit Yvonne Keil, Mitglied des Vorstands von Silicon Saxony und Director Global Indirect Procurement bei Globalfoundries

In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat es das Hightech-Netzwerk Silicon Saxony geschafft, rund um Dresden Europas größten Mikroelektronik-Standort aufzubauen. Globalfoundries, Infineon und Bosch betreiben dort einige der modernsten und größten Halbleiter-Fabs weltweit. Damit könnte die Region ein gutes Vorbild für Europa sein, wie man hierzulande erfolgreich ein Halbleiter-Ökosystem aufbauen kann. Yvonne Keil, Mitglied des Vorstands von Silicon Saxony, ist überzeugt, dass sich so ein Engagement lohnt. Als ­Director Global Indirect Procurement ist Keil bei ­Globalfoundries unter anderem verantwortlich für den Bau neuer Produktionsstätten und mahnt an, dass Investitionen differenziert erfolgen müssen.

Frau Keil, wie kamen Sie überhaupt zur Halbleiterindustrie?

Yvonne Keil: Mit 16 habe ich ein Praktikum in einem Halbleiterunternehmen absolviert. Ich stand da in dieser riesigen, vollautomatisierten Fabrik mit ihrem komplexen Herstellungsprozess, bei der am Ende dieser kleine Chip herauskommt. Das fand ich faszinierend, hier wollte ich arbeiten. Ich studierte also Halbleiter- und Elektrotechnik und machte mich auf den Weg. 

Welche Technologie-Entwicklungen aus dem Bereich der Halbleiter finden Sie aktuell besonders spannend?

Y. K.: Das Spannendste ist für mich im Moment, dass Halbleitertechnologie überall im Leben eines jeden Menschen zu finden ist. Wenn Sie Auto fahren, sind da ­Hunderte von Chips darin – und wenn man für einen Halbleiterhersteller arbeitet, war man höchstwahrscheinlich an der Produktion einiger davon beteiligt. Oder man schaut sein mobiles Gerät an und denkt – hey, den Display-Chip habe ich mitentwickelt. Oder wenn man mit seinen Lieben und Freunden auf der ganzen Welt in Verbindung treten will – überall sind Halbleiter Teil des täglichen Lebens. Das fasziniert mich wirklich.

 

„Halbleiter sind überall und sie sind unverzichtbar.“

 

Was macht Halbleiter aus Ihrer Sicht so wertvoll? 

Y. K.: Um die Herausforderungen der kommenden Generationen und die, mit denen wir heute bereits konfrontiert werden, zu bewältigen, brauchen wir die Halbleitertechnologie. Wenn ich darüber nachdenke, wie ich meinen CO2-Fußabdruck verringern und meine Lebensweise nachhaltiger gestalten kann, muss ich über ein neues Konzept des Energiemanagements und der Energieerzeugung nachdenken – dazu gehören dann fast zwangsläufig Mikrochips. Wenn man über neue Mobilitätskonzepte für Städte nachdenkt und darüber, wie man Autos verbessern kann – dann sind Halbleiter ein Teil davon. Daher haben Halbleiter heute so einen hohen Wert für uns.

Würden Sie der Aussage zustimmen, dass Mikrochips das neue Erdöl sind – also der Motor für die Volkswirtschaften?

Y. K.: Das passt ganz gut, denke ich. Halbleiter sind überall und sie sind unverzichtbar. Wichtig dabei: Es gibt nicht den einen Halbleiter. Man braucht nicht nur Zwei- oder Fünf-Nanometer-Chips. Sondern man benötigt für all die verschiedenen Aspekte des Lebens, in denen Halbleiterprodukte eingesetzt werden, sehr differenzierte Lösungen. 

Halbleiter werden zunehmend zu einem politischen Thema – was bedeutet das für die Industrie? 

Y. K.: Grundsätzlich gilt, dass die Chip-Herstellung komplex ist und die Märkte wachsen. In den vergangenen Jahren wurden die Investitionen nicht mehr in dem Maße getätigt, wie sie wahrscheinlich nötig gewesen wären, um auf die wachsende Nachfrage vorbereitet zu sein. Aber mit dem, sagen wir mal, Beschleuniger COVID-19 stehen wir vor einer neuen Geschwindigkeit der Digitalisierung. Regierungen erkennen jetzt, dass sie in die Fertigung mitinvestieren müssen, um ihre heimischen Kapazitäten zu sichern und ihre Industrien und Volkswirtschaften zu unterstützen. Das ist ein deutlicher Mentalitätswandel. Chips sind ganz klar ein Teil jeder Industrie, und das wird jetzt erkannt.

Was ist aus Ihrer Sicht erforderlich, um einen Engpass bei HalbleiterProdukten in Zukunft zu vermeiden?

Y. K.: Das, was nötig ist, ist bereits in Gang gesetzt: Wir haben in der Halbleiterindustrie begonnen, die Kapazitäten zu erhöhen und nehmen dazu erhebliche Investitionen vor. Zum Beispiel investiert Globalfoundries in eine neue Fab in Singapur und baut auch die Standorte in Dresden und den Vereinigten Staaten weiter aus. Auf der anderen ­Seite hat die Politik erkannt, dass die Halbleiterindustrie entscheidend für die Zukunft ist, und wir brauchen Rückenwind durch neue wirksame Instrumente wie den European Chips Act. Diese müssen aber auch schnell eingesetzt werden, damit die Unternehmen das klare ­Signal für weitere Investitionen bekommen. 

Reicht es denn, dazu einfach neue Fabriken zu bauen?

Y. K.: Nein, das reicht nicht. Auch das gesamte Ökosystem drumherum muss ausgebaut werden. Das bedeutet, dass auch unsere Zulieferer investieren und ihre Kapazitäten ausbauen müssen. Und natürlich müssen auch die Fachkräfte verfügbar sein, um das Wachstum zu unterstützen.

Hat die Politik in der Vergangenheit geschlafen und nicht die nötigen Maßnahmen ergriffen, um die Chip-Lieferketten zu sichern?

Y. K.: Es liegt eher daran, dass die Nachfrage nach Halbleitern wesentlich schneller gestiegen ist, als man vorhersehen konnte. Da war COVID-19 ganz klar ein Beschleuniger. Damit haben wir die nächste Stufe der Digitalisierung viel schneller erreicht, als erwartet wurde. Aber jetzt muss auch die Politik entsprechend schnell reagieren, um nicht den Anschluss zu verlieren. 

Was kann die Politik tun, um die Halbleiter­­Industrie wieder zurück nach Europa zu holen?

Y. K.: Mit dem IPCEI Instrument, dem European Chips Act oder dem US Chips Act hat die Politik richtige und wichtige Schritte gemacht. Aber: Es ist genauso wichtig, in die richtige Technologie zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu investieren. Und man muss genau überlegen, in welche Technologiefelder ganz konkret investiert wird. Denn wie ich schon gesagt habe – es gibt nicht den einen richtigen Weg und die eine richtige Technologie, sondern es gibt in der Halbleiterindustrie viele Anforderungen. Wir brauchen deshalb eine Vielzahl von innovativen und differenzierten Lösungen für viele unterschiedliche Anwendungen und Erfordernisse, um erfolgreich zu sein.

Wie ist denn Ihre persönliche Meinung zum European Chips Act?

Y. K.: Es ist der richtige Schritt nach vorn. Unsere Regierung und die Europäische Kommission unterstreichen damit, dass die Halbleiterindustrie unverzichtbar ist und dass die Politik sie unterstützen will. Aber die Investitionen und Finanzierungen müssen in die richtigen Technologien, am richtigen Ort und im richtigen Tempo getätigt werden.

Was könnten dabei Hindernisse sein?

Y. K.: Es geht vor allem um Geschwindigkeit. Die entsprechenden Entscheidungen müssen sehr schnell getroffen und konsequent umgesetzt werden.

Wie kam es dazu, dass die Region rund um Dresden zu einem der größten Mikroelektronik- und IT-Cluster Europas geworden ist?

Y. K.: Die richtigen Leute waren entscheidend. Dresden war ja bereits zu DDR-Zeiten ein Zentrum für Mikroelektronik. Als nach der Wiedervereinigung die ersten Halbleiterfirmen nach einem Standort suchten, war Dresden einfach die Stadt mit den entsprechenden Fachkräften, den richtigen Leuten mit den richtigen Fähigkeiten. Im Laufe der Jahre, und wir sprechen inzwischen von 60 Jahren Halbleiterindustrie in Dresden, haben wir rundherum ein ganzes Ökosystem aufgebaut. Das profitiert eindeutig von der richtigen Mischung aus technologischen Lehr- und Forschungskapazitäten – wir arbeiten eng mit Universitäten und zum Beispiel den Fraunhofer-Instituten zusammen –, von großen Playern wie auch kleineren Zulieferern der Halbleiterindustrie und von Firmen aus der Softwarebranche. Diese Mischung hat das Cluster so erfolgreich gemacht.

Was unterscheidet Silicon Saxony von anderen Initiativen in diesem Bereich? 

Y. K.: Angefangen hat alles in den 90er-Jahren mit einer Initiative „von unten“, sprich: der Zulieferindustrie. Ziel war es, zusammen mit der ersten Halbleiterfabrik in Dresden, das in Sachsen vorhandene Halbleiter-Ökosystem sichtbarer zu machen. Der große Unterschied zu anderen Organisationen in diesem Bereich ist, dass wir eine zu einhundert Prozent privat finanzierte Initiative sind – die Finanzierung erfolgt also ausschließlich durch die Halbleiterindustrie und ihre Zulieferer. Natürlich arbeiten wir dabei auch eng mit der Regierung zusammen. 

 

„Die verschiedenen Aspekte des Lebens erfordern entsprechend­ differenzierte Halbleiter­lösungen.“

 

Wie sieht es mit dem Nachwuchs an Fachkräften bei Ihnen aus? 

Y. K.: Wir alle brauchen sie! Wir arbeiten in einer sehr, sehr interessanten Branche, die Experten und Spezialisten in vielen Bereichen benötigt. Wir brauchen Technikerinnen und Techniker für den Betrieb großer Fabs genauso wie Fachleute in der Technologieentwicklung oder IT-Experten. Es geht darum, die nächste Generation für die kommenden Herausforderungen fit zu machen.

Was würden Sie denn einem Jugendlichen sagen, warum er eine Karriere in der Halbleiterindustrie anstreben sollte?

Y. K.: Die Halbleiterindustrie ist wirklich faszinierend – auch, weil sie einem als jungem Menschen so viele Möglichkeiten bietet. Ich zum Beispiel habe in meinen 18 Berufsjahren bereits als Automatisierungsingenieurin gearbeitet, war dann verantwortlich für die Qualitäts­sicherung in der Produktion und bin heute in der Beschaffung tätig. Es gibt so viele Bereiche bei der Herstellung von Halbleiterprodukten  … Es ist einfach großartig, ein Teil ­davon zu sein.

Was genau macht das so großartig?

Y. K.: Man kann die Welt durch Technologie verbessern. Und die Leidenschaft für Technologie verbindet Menschen und Kulturen weltweit miteinander.