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Auf dem Weg zu einer resilienten Lieferkette

Der aktuelle Chip-Engpass hat deutlich gemacht, wie empfindlich die komplexen Halbleiter-Lieferketten auf Störungen reagieren. Politik, Halbleiterindustrie und Unternehmen, die Chips für ihre Produkte benötigen, ergreifen nun verschiedene Maßnahmen, um die Resilienz der Lieferketten zu steigern.

Konsum-Boom meets Lieferengpässe: So lässt sich die aktuelle Situation im Welthandel kurz zusammenfassen. Insbesondere bei der Versorgung mit Halbleiterprodukten traten in den letzten Monaten große Engpässe auf, die zumindest teilweise wohl auch noch bis ins Jahr 2023 andauern werden. 

Halbleiterindustrie erweitert Kapazitäten 

Die Halbleiterindustrie reagierte bereits, erhöhte die Auslastung der vorhandenen Fabriken und steigerte damit das Volumen der produzierten Halbleiterprodukte. Auch wurden spezielle „Kommandozentralen“ eingerichtet, um die dringendsten Kundenanfragen zu bearbeiten und um in enger Zusammenarbeit mit den Kunden Doppelbestellungen zu vermeiden. Mit Erfolg, wie der ­Europäische Verband der Halbleiterindustrie (ESIA) berichtet, denn der weltweite Halbleiterumsatz stieg im Jahr 2021 um 26,2 Prozent gegenüber 2020 an. „Die Rekordzahlen, die der Halbleitermarkt im Jahr 2021 erreicht hat, zeigen, dass die Branche auf das beispiellose Wachstum der weltweiten Halbleiternachfrage reagiert“, erklärt Hendrik Abma, ­Generaldirektor der ESIA. So konnten die Kunden kurzfristig schneller und effizienter mit Produkten beliefert ­werden. Für eine langfristige Sicherung der Versorgung planen die Chiphersteller darüber hinaus, weltweit mit hohen Investitionen neue Produktionskapazitäten zu schaffen.

Kleine Hersteller nutzen ihre Chance

Parallel dazu ist laut der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deloitte Global zu beobachten, dass die Risikokapital­investitionen in Halbleiter zunehmen – das betrifft vor ­allem Unternehmen, die neue Arten von Chips herstellen, zum Beispiel mit besonderen Funktionen für ­spezielle ­Anwendungen. Deloitte Global prognostiziert, dass Risiko­kapital-Geber im Jahr 2022 weltweit mehr als sechs ­Milliarden US-Dollar in neu gegründete Halbleiterunternehmen investieren werden. Das ist mehr als dreimal so viel wie in jedem Jahr zwischen 2000 und 2016. Dabei zieht insbesondere RISC-V Investitionen an: Dank dieser Open-Source-Befehlssatzarchitektur für das Chipdesign haben auch kleinere Gerätehersteller die Möglichkeit, kostengünstig Hardware zu bauen. Laut Deloitte Global wird sich der Markt für RISC-V-Prozessorkerne im Jahr 2022 im Vergleich zu 2021 verdoppeln.

 

„Wir sollten uns nicht auf ein einziges Land oder ein bestimmtes Unternehmen verlassen, um die Versorgungssicherheit zu ­gewährleisten.“ 

Margrethe Vestager, EU-Kommissarin für Wettbewerb und Digitales

 

Lieferketten resilienter gestalten

Doch nicht nur die Halbleiterindustrie reagiert. Durch den Halbleitermangel ist auch die Abhängigkeit bei der Versorgung mit Halbleiterprodukten von wenigen ­Ländern und Herstellern deutlich zu Tage getreten und hat sowohl Kunden als auch die Politik wachgerüttelt. Seitdem stellt sich allen die Frage, wie die Lieferketten robuster gestaltet werden können. Das neue Schlagwort Resilienz beschreibt in diesem Kontext die Widerstandskraft einer Lieferkette, sich externen Störfaktoren zu widersetzen ­beziehungsweise sich neu ausrichten zu können.

Mehr Chips im eigenen Land produzieren

Um diese Widerstandskraft zu erhöhen, nehmen Regierungen rund um die Welt viel Geld in die Hand. Ihr Fokus liegt dabei insbesondere darauf, mehr Chips im eigenen Land zu produzieren. „Die weltweiten Lieferengpässe zeigen: Deutschland und Europa haben keine Zeit zu verlieren. Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, unseren Bedarf an Mikroelektronik selbst zu decken, und die Produktion wieder stärker nach Deutschland und Europa holen. Dafür werden wir Fördermittel in Milliardenhöhe in die Hand nehmen“, so der deutsche Wirtschafts- und Klimaschutzminister
Robert Habeck. „Wir wollen die Chip-Produktion in Deutschland und Europa stärken und unabhän­giger von internationalen Lieferketten ­werden.“ Die Europäische Kommission hat dafür den European Chips Act auf den Weg gebracht: Er soll 43 Milliarden Euro in Form von ­öffentlichen und privaten Investitionen mobilisieren, um künftige Unterbrechungen der Lieferketten zu verhindern. Die Ziele beschreibt der für den Binnenmarkt zuständige Kommissar Thierry Breton so: „Die Sicherung der Versorgung mit den modernsten Chips ist zu einer wirtschaftlichen und geopolitischen Priorität geworden. ­Unsere Ziele sind ehrgeizig, denn bis 2030 wollen wir unseren Marktanteil auf 20 Prozent verdoppeln und in Europa die ausgereiftesten und energieeffizientesten Halbleiter herstellen.“ Auch in den USA passierte unlängst ein vergleichbares Gesetz das Repräsentantenhaus: Es sieht Investitionen in Höhe von insgesamt 52 Milliarden US-Dollar zur Stärkung der heimischen Halbleiterfertigung und -forschung vor.

Beschaffung optimieren

Doch auch die „Verbraucher“ von Halbleitern selbst ergrei­fen zunehmend Maßnahmen, um von ihrer Seite aus die Lieferketten resilienter zu gestalten. Allen voran die ­Automobilindustrie, die besonders unter dem Halbleiterengpass gelitten hat. Die Unternehmensberatung Roland Berger empfiehlt Unternehmen aus der Automobilindustrie und anderen Branchen, die auf Halbleiter angewiesen sind, die Krise aktiv zu adressieren. Hierzu zählen ­technische Maßnahmen wie ein schnellerer Wechsel auf ­einen ­zentralisierten bzw. zonalen Aufbau der ­Fahrzeugelektrik und -elektronik, um so die Anzahl der benötigten Chips zu reduzieren. „Langfristig müssen OEMs und Zulieferer ihre Design-Philosophie anpassen, um mit den dynamischen Kapazitätsveränderungen in der Halbleiterindustrie Schritt zu halten. Die Bewältigung der Krise ­erfordert strategische Maßnahmen“, betont aber Thomas Kirschstein, ­Principal bei Roland Berger. Dabei stellen ­direkte langfristige ­Lieferverträge mit Halbleiterunternehmen, die wechselseitige Kapazitätszusagen und ­Abnahmeverpflichtungen über mehrere Jahre enthalten, einen wichtigen Hebel dar. „Die Lieferketten für ­automobile Halbleiter sind komplex“, sagt Gaurav Gupta, Research Vice ­President bei Gartner. „In den meisten Fällen sind die Chip-Hersteller traditionell Tier-3- oder Tier-4-­Zulieferer der Automobilhersteller, was bedeutet, dass es in der ­Regel eine Weile dauert, bis sie sich an die Veränderungen der Nachfrage auf dem ­Automobilmarkt anpassen. Dieser Mangel an Transparenz in der Lieferkette hat den Wunsch der Automobil-OEMs nach mehr Kontrolle über ihre Halbleiterlieferungen verstärkt.“ So haben zum Beispiel Ford und BMW bereits ­direkt mit Global­foundries Vereinbarungen zur Belieferung mit Chips ­getroffen. „Wir vertiefen unsere Partnerschaft mit den ­Lieferanten an ­wichtigen Stellen im Lieferantennetzwerk und synchronisieren ­unsere Kapazitätsplanung direkt mit den Halbleiterherstellern und -entwicklern. Das ­erhöht die Planungssicherheit und Transparenz über die benötigten ­Mengen für alle Beteiligten und sichert unseren Bedarf langfristig ab“, so Dr.  ­Andreas Wendt, Mitglied des ­Vorstands der BMW AG, verantwortlich für Einkauf und Lieferantennetzwerk. 

Elektronik-Logistik neu definiert

Thorsten Eyle, Director LogON bei EBV Elektronik, erläutert die neuen Logistik-Services von EBV Elektronik und wie sie dazu beitragen können, die Halb­leiter-Lieferketten resilienter zu machen.

Die Halbleiterindustrie kommt derzeit kaum nach, die ­große Nachfrage nach Halbleiterprodukten zu stillen. Eine Ausweitung der Produktionskapazitäten wird zwar bereits angegangen, aber erst in einigen Jahren ­Wirkung zeigen. Daher fordern Branchen-Experten parallel dazu, die Lieferketten zu optimieren und resilienter zu ­gestalten. Wie das aussehen kann und was ein Distributor wie EBV ­Elektronik dazu beitragen kann, erklärt Thorsten Eyle. Er leitet bei EBV Elektronik den neuen Geschäftsbereich LogOn, mit dem der Halbleiter-Distributor die verschiedensten Logistik-Services für seine Kunden bündelt. 

Was genau ist LogOn eigentlich?

Thorsten Eyle: LogOn – die Kurzform für Logistics Only – ist ein Beispiel für die Innovation bei EBV Elektronik. Als eigene „Sales Region“ sind wir die Spezialisten bei EBV für komplexe Logistik und Fulfillment-Kunden. Wir haben ­LogOn aufgrund der Veränderungen und Entwicklungen im Distributionsgeschäft gegründet: Wir waren bis dato rund 50 Jahre als reiner Demand Creation Distributor im Markt bekannt. Doch in den letzten Jahren haben sich ­immer mehr Hersteller entschieden, die Demand Creation selbst direkt mit dem Kunden zu machen. Das müssen wir natürlich akzeptieren, sehen darin aber auch eine Chance, die wir mit LogOn ergriffen haben. Hersteller und Kunden benötigen am Ende einen Partner für die reine Logistik und die damit verbundenen Dienstleistungen – und den finden sie jetzt bei uns.

Was braucht man – neben einer höheren Produktion – um die Halbleiter-Liefer­ketten unempfindlicher zu machen?

T. E.: Dafür ist eine komplette Transparenz beim Daten­austausch in elektronischer Form unerlässlich. ­Zudem muss der Kunde langfristiger agieren – eine Auftrags­erteilung der Kunden über einen Zeitraum von größer zwölf Monaten bietet deutlich mehr Planungssicherheit. Aber auch Langzeit-Vereinbarungen über einen Zeitraum von drei Jahren in der Dreiecksbeziehung Kunde, ­Hersteller und LogOn mit einem fixierten Mengengerüst beziehungsweise einer Kapazitätsreservierung können eine Lösung sein.

Eine scheinbar logische Konsequenz ­wä­ren auch Pufferlager für HalbleiterProdukte … 

T. E.: Wir nennen diese Art von Pufferlager „Security Stock“. Das heißt, wann immer es beim Kunden zu einer Line-down-Situation kommt, kann er auf die Ware zurückgreifen und die Produktion fortführen.

Ist das überhaupt so ohne weiteres ­möglich – angeblich können Halbleiter doch nicht unbegrenzt gelagert werden? 

T. E.: Die meisten Kunden haben ein Datecode-Limit von zwölf Monaten hinterlegt … Aber natürlich kann die Ware auch darüber hinaus verwendet werden. In unserem ­Lager haben wir darüber hinaus das FIFO-Prinzip realisiert, das heißt, die Ware „dreht“ sich permanent. Ab ­Sommer 2022 bieten wir bei EBV Elektronik zudem gemeinsam mit ­unserem Schwesterunternehmen Avnet Logistics in Poing Long-Term-Storage an: Das Konzept erlaubt eine Bevorratung von bis zu zehn Jahren.

Hat EBV Elektronik ein eigenes Lager für HalbleiterProdukte? 

T. E.: EBV Elektronik bezieht alle Waren komplett aus dem eigenen Lager Poing bei München – und damit auch LogOn.

Welche Services gehören noch zum LogOn-Angebot?

T. E.: Wir bieten sämtliche Logis­tik­­leistungen an, die der Kunde von EBV Elektronik kennt. Dazu gehören zum Beispiel das Pufferlager, ­Forecast Management, ­End-of-Line-Logistik und Langzeit-Einlagerung, Labelling und Programmierung. Dazu haben wir eine eigene Preisliste für Zusatzleistungen, bei der der Kunde ganz individuell auswählen kann, was er an zusätzlicher Logistik benötigt.

Und im Zusammenhang mit unserem Storage-Angebot ­bieten wir auch ein Peak Management. Dabei bevor­raten wir einen bestimmten Prozentsatz der Jahresmenge der benötigten A-Teile. Die Menge wird gemeinsam mit dem Kunden definiert. Im Rahmen des Peak Managements nutzt der Kunde unser Lager, um Bedarfsspitzen aus­zugleichen. Teilweise stellt er die Ware auch seinen Dienstleistern zur Verfügung, um einen Produktionsstopp zu verhindern.

Wie kommt das Service-Angebot von ­LogOn an? Anders gefragt: Wie laufen die ­Geschäfte?

T. E.: Von 2020 auf 2021 konnten wir das Ergebnis verdoppeln – dank der neuen Lösungen wie SPOC und TAM to DTAM. Für 2022 sehen wir bislang gute Chancen um weitere 30 Prozent zu wachsen.

Was ist unter SPOC und TAM to DTAM zu ­verstehen?

T. E.: Es gibt Kunden, die nur mit Auftragsfertigern, den sogenannten EMS, arbeiten. Sie haben dabei keine Transparenz, welche Mengen der EMS bei welchem Lieferanten bestellt hat. SPOC – was Single Point Of Contact heißt – ist dafür eine Alternative: Alle Bestücker werden projekt­bezogen via LogOn bedient. Das heißt, wir bündeln die Bedarfe der Fertiger unter dem LogOn-Dach mit entsprechenden Vorteilen bei der Warenverteilung nach Vorgabe und Priorität des Endkunden. 

Dank SPOC interagieren LogOn-Kunden also nur mit einer einzigen Anlaufstelle, über die sie vollständige Trans­parenz und ständige Aktualisierungen erhalten. Sie ­müssen sich nicht mehr mit zahlreichen Ansprechpartnern an verschiedenen Standorten auseinandersetzen oder unein­heitliche Informationen aus verschiedenen Quellen ­erhalten. Alles wird in einer gestrafften und ­kohärenten Art und Weise bereitgestellt, die den Entscheidungs­prozess erleichtert und zur Steigerung der Effizienz ­beiträgt. Kurz gesagt, sie können das ­Management der Lieferketten ihrer EMS-Partner ­abgeben und damit ihre eigenen Beschaffungsabteilungen deutlich entlasten.

Und was bedeutet TAM to DTAM?

T. E.: Viele Hersteller stehen in einer direkten Geschäfts­beziehung zum Kunden. Wenn sie das aber aus logistischer Sicht nicht mehr bewältigen können, können wir sie unterstützen: Mit TAM to DTAM – also Total ­Available ­Market to Distribution Total Available Market – können sie ihr ­Direktgeschäft zu uns zu transferieren. LogOn hat dazu ein Setup erstellt, bei dem sowohl Kunden als auch Hersteller 100 Prozent Transparenz erhalten. Das ­gesamte TAM-to-DTAM-Konzept haben wir dazu elektronisch ­umgesetzt, um dem Anspruch der Digitalisierung gerecht zu werden. Am Ende entlasten wir damit auch den Hersteller, denn er kann sich auf seine Kernkom­petenz – die Herstellung der Bauteile – konzentrieren und wir übernehmen die Supply Chain für ihn.

 

„Hersteller und Kunden benötigen am Ende einen Partner für die reine ­Logistik und die damit verbundenen Dienstleistungen – und den finden sie jetzt bei uns.“

 

Kann das LogOn-Modell denn ­tatsächlich zur Entspannung der Supply Chain ­bei­tragen?

T. E.: Mit unserer systemischen Umsetzung auf jeden Fall, zumindest was die Zuteilung der Ware angeht. ­Zudem ­ermöglichen die fortschrittlichen Tools, die unser Team einsetzt, eine weitaus genauere Vorhersage des künftigen Komponentenbedarfs. Mögliche Risiken von Engpässen können erkannt und angegangen werden, bevor sie ­problematisch werden. Darüber hinaus bedeutet die semi-dynamische Überwachung der Verbrauchsmengen, dass notwendige Änderungen der Bestandsmengen frühzeitig vorgenommen werden können.

Wenn wir uns aber die letzten zwei Jahre ansehen, ­müssen wir auch ehrlich sein: Wenn einfach zu wenig produziert wird, kann auch LogOn nichts machen.

Zum Schluss noch die Frage, die wohl viele Firmen – und Verbraucher – interessiert: Wie lange werden Halbleiter noch ­Mangelware sein?

T. E.: Das ist in der Tat die Frage die uns alle beschäftigt. Ich glaube es wird bis 2023 dauern. Die ­Begründung liegt auf der Hand: Weltweit steigen die ­Bedarfe pro Jahr – und das in allen Bereichen, vom Automotive Sektor bis zu den ­Consumer Electronics. Gleichzeitig werden die ­erweiterten Produktionskapazitäten erst 2023 Wirkung zeigen.