Kersten Heineke war schon immer fasziniert von Produkten und Lösungen, die einen für alle erfahrbaren Nutzwert haben. So sieht er in Mobilitätslösungen auch mehr als „nur“ Technik. In seinen Augen ist Mobilität ein Beitrag dazu, das Leben der Menschen zu verbessern – indem der Weg von A nach B billiger, bequemer oder umweltfreundlicher wird. Damit wäre nicht nur dem Einzelnen geholfen, sondern der Gesellschaft, der gesamten Menschheit. Als Co-Leiter des McKinsey Center for Future Mobility kann er dabei einen aktiven Part übernehmen: Das Center ist der Think-Tank der Unternehmensberatung für die Mobilitätsdisruption. 200 Menschen weltweit beschäftigen sich einzig mit der Zukunft der Mobilität. Sie beraten betroffene Unternehmen – vom Autohersteller bis zur Versicherung – und unterstützen Start-ups bei der Kapitalbeschaffung sowie bei der Skalierung.
Herr Heineke, mit dem McKinsey Center for Future Mobility sitzen Sie mitten in Frankfurt, einem der größten Ballungsräume Deutschlands. Wie bewegen Sie sich persönlich im Alltag in der Stadt?
Kersten Heineke: Ich benutze Shared E-Kick-Scooter, was 95 Prozent meines Mobilitätsbedarfs abdeckt. Für bestimmte Fahrten nehme ich gelegentlich ein Taxi, aber ein Auto habe ich nicht. Obwohl ich früher ein Autoliebhaber war. Ich hatte leistungsstarke Autos, aber irgendwann habe ich beschlossen, dass ein Auto – zumindest eines, das man besitzt – nicht unbedingt die beste Art ist, sein Geld auszugeben. Und es ist auch definitiv nicht die beste Art, sich in einer Stadt fortzubewegen, vor allem, wenn es darum geht, „lediglich eine“ Person zu transportieren.
Warum brauchen wir eine neue Art der Mobilität?
K. H.: Das Auto hat vielen Menschen Freiheit gegeben und uns als Gesellschaft in Deutschland, aber auch in vielen anderen Ländern, zu Wohlstand verholfen. Aber jetzt, wo die Städte fast zum Stillstand gekommen sind und Staus und Verkehrsemissionen eine große Herausforderung darstellen, müssen wir uns damit auseinandersetzen. Wir können es uns nicht länger leisten, dass die Zahl der Autos pro Haushalt im proportionalen Verhältnis zum Einkommen einer Gesellschaft, eines Landes wächst. Wir müssen also alternative Lösungen finden, um Staus und Emissionen zu bekämpfen und den Verkehr zu dekarbonisieren. Und diese Lösungen können alles sein, von Shared-Mobility bis hin zu Mikromobilität oder vielleicht weniger Mobilität, indem man kürzere Strecken zurücklegt.
Welche Technologien sind für die Entwicklung neuer Mobilitätslösungen entscheidend?
K. H.: Ich denke, dass viele Technologien hier sehr spannend sind. Das autonome Fahren ist für mich die Wichtigste davon. Wenn wir in der Lage sind, uns mit Fahrzeugen, die keinen Sicherheitsfahrer mehr brauchen, autonom durch die Metropolen zu bewegen, können wir eine ganz neue Art von Fahrzeugen in die Stadt bringen: Ein gepoolter Kleinbus oder ein Robo-Shuttle oder ein gemeinsam genutztes AV, je nachdem, wie man es nennen möchte. Diese Fahrzeuge bieten den Komfort und die Freiheit, sich in der Stadt fortzubewegen, ohne selbst fahren zu müssen, und das zu Kosten, die irgendwo zwischen denen eines Privatfahrzeugs und denen des öffentlichen Nahverkehrs liegen. Gleichzeitig benötigen sie viel weniger Platz und sind völlig emissionsfrei, da sie elektrisch betrieben werden. Eine weitere Technologie, die ich sehr spannend finde, ist die Urban Air Mobility. Sie kann die Mobilität ergänzen. Wir können die dritte Dimension nutzen und auch neue Wege finden, um schneller und vor allem zuverlässiger von A nach B zu kommen. Und zuletzt sind natürlich die Elektrifizierung und die Wasserstofftechnologie die großen Trends, die es uns ermöglichen werden, den öffentlichen Verkehr zu dekarbonisieren.
Sie sprachen von autonomen Fahrzeugen als Wegbereiter für eine erschwingliche Shared-Mobility. Ist es realistisch, davon auszugehen, dass Einzelpersonen in Zukunft kein eigenes Auto mehr haben werden?
K. H.: Die kurze Antwort ist ja. Die etwas längere Antwort ist, dass es davon abhängt, wo die Menschen leben und unter welchen Bedingungen sie leben. Ich zum Beispiel bin verheiratet, habe keine Kinder und wohne in Frankfurt, ganz in der Nähe des Stadtzentrums. Es besteht absolut keine Notwendigkeit, ein privates Fahrzeug zu haben. Ein privates Auto kostet zwischen 500 und 1.000 Euro im Monat – ein ziemlich hoher Preis für ein Fahrzeug, das man in der Regel nur sehr wenig nutzt. Und wenn man den Menschen in der Stadt eine Alternative anbieten kann, um von A nach B zu kommen, mit ähnlichem Komfort, mit ähnlicher Geschwindigkeit und mit ähnlicher Bewegungsfreiheit, wie sie das Auto bietet, dann bin ich mir zu 100 Prozent sicher, dass die Menschen umsteigen werden. Lassen Sie mich ein anderes Beispiel nennen. Meine Mutter lebt in einer ziemlich ländlichen Gegend, einem Dorf mit 6.000 Einwohnern. Die nächstgrößere Stadt ist 15 Autominuten entfernt und hat 150.000 Einwohner. Wird sie in ihrem Leben ohne Auto auskommen? Ich bezweifle es, denn in einer ländlichen Gegend braucht man ein Auto, weil es keine öffentlichen Verkehrsmittel in ausreichender Anzahl gibt und sich längere Strecken nur eingeschränkt mit Mikromobilität zurücklegen lassen.
Was bedeutet das autonome Fahren für die großen Autohersteller?
K. H.: Für mich ist es in erster Linie eine große Chance. Und warum? Weil ein Auto, das autonom fährt, dem Nutzer Freiheit gibt. Stellen Sie sich vor, Sie müssten jeden Morgen 40 Minuten zur Arbeit fahren. Sie könnten diese Zeit nutzen, um etwas zu tun, zum Beispiel Ihre morgendlichen Arbeits-E-Mails zu checken. Dann könnte das sogar als Arbeitszeit angerechnet werden. Und wenn ein Automobilhersteller in der Lage ist, einem Kunden diese Art von Funktion zu bieten, ist die Loyalität gegenüber dem Unternehmen wahrscheinlich viel höher. Der Hersteller könnte sogar in der Lage sein, den Kunden dafür Geld zu berechnen und den Service pro Kilometer oder pro Minute zu monetarisieren. Die Bereitschaft, dafür zu zahlen, ist vorhanden, wir haben das getestet. Für mich ist das also ein riesiges Potenzial. Auf der anderen Seite, und wir haben bereits über das Shared Autonomous Driving gesprochen, hat es auch eine Kehrseite. Stellen Sie sich vor, in einer Stadt gibt es jetzt 20, 30, vielleicht sogar 90 Prozent weniger Fahrzeuge. Das ist sicherlich eine Herausforderung. Die Automobilhersteller müssen also darüber nachdenken, wie sie Teil dieser Shared Autonomous Mobility werden können, indem sie die Fahrzeuge zur Verfügung stellen, die Dienstleistungen selbst anbieten oder ein anderes attraktives Geschäftsmodell finden.
Neben den großen, etablierten Marktteilnehmern gibt es auch viele Start-ups, die neue Mobilitätslösungen entwickeln. Wie solide ist Ihrer Erfahrung nach das Fundament, auf dem diese innovativen Unternehmen stehen?
K. H.: Die Start-ups im Mobilitätsbereich sind die eigentlichen Innovationstreiber. Ich glaube nicht, dass wir Elektrofahrzeuge hätten, wenn es dieses eine Start-up nicht gegeben hätte, das heute kein Start-up mehr ist. Zumindest wären Elektrofahrzeuge nicht so fortschrittlich, wie sie es heute sind. Wir würden wahrscheinlich keine große Diskussion über gemeinsam genutzte autonome Fahrzeuge führen, wenn es keine Start-ups gäbe. Das Gleiche gilt für Mikromobilität oder Ride-Sharing. All diese Start-ups treiben die Innovation für die Zukunft der Mobilität voran. Jeder hat heute eine App des einen oder anderen Start-ups auf seinem Handy – für mich ein Zeichen, dass diese Unternehmen offensichtlich erfolgreich sind, dass sie genutzt werden, dass sie einen klaren Bedarf und einen klaren Zweck erfüllen und deshalb weiter bestehen werden.
Wie müssen sich Städte verändern und was können sie tun, um neue Formen der Mobilität zu fördern und zu unterstützen?
K. H.: In den meisten Städten sind heute 50 bis 60 Prozent des Verkehrs Individualverkehr, Autoverkehr. Wenn wir das ändern und zu einer Welt gelangen wollen, in der wir nur noch 10 oder 15 Prozent haben, müssen wir einen großen Teil der zurückgelegten Fahrzeugkilometer auf andere Formen und andere Verkehrsträger umverteilen. Um das zu erreichen, müssen wir weiter in den öffentlichen Verkehr investieren. Wir können Fahrradwege bauen und in die Infrastruktur für Mikromobilität investieren, um die Menschen vom Auto auf Roller, E-Bikes und so weiter zu bringen. Ich denke, der größte Hebel, um die Zukunft der Mobilität wirklich zu gestalten, sind gemeinsam genutzte autonome Fahrzeuge. Ich denke, dass theoretisch 90 Prozent des heutigen Individualverkehrs auf Shared Autonomous Vehicles verlagert werden könnten. Das würde die Art und Weise, wie Städte genutzt werden und wie die Menschen von A nach B kommen, völlig verändern und die Städte grüner machen. Mobilität würde erschwinglicher werden. Sie wäre bequemer und hätte viele, viele andere Vorteile für die Stadt und natürlich für die Bürger. Was muss geschehen? Wir brauchen die Technologie. Aber gleichzeitig brauchen wir auch den Mut der Stadt oder der Politiker, unpopuläre Entscheidungen zu treffen, wenn es um die Nutzung von Privatfahrzeugen geht. Das bedeutet nicht unbedingt ein Verbot, aber die Nutzung von Privatfahrzeugen muss so weit zurückgedrängt werden, dass die Alternativen, das heißt Robo-Shuttles, nicht nur die klügere Wahl sind, sondern auch die Wahl, die jeder trifft.
Wie sieht es mit den ländlichen Gebieten aus? Werden sie Teil dieser Revolution sein oder werden sie sich nicht so sehr verändern?
K. H.: Lassen Sie mich noch einmal auf die Situation meiner Mutter zurückkommen: Wird ein Robo-Shuttle sie abholen, um in die Stadt zu fahren? Wahrscheinlich nicht. Es gibt einfach nicht genug Dichte in der Gegend, um dies zu einem wirtschaftlich tragfähigen Modell zu machen, selbst mit Subventionen. Was jedoch geschehen wird und bereits geschieht, ist, dass die Fahrzeuge, die die Bürger dieser Gebiete besitzen, elektrifiziert werden. Der Grund dafür ist, dass die meisten Menschen, die in ländlichen Gebieten leben, in Häusern und nicht in Wohnungen wohnen. Daher haben sie eine bessere Möglichkeit, das Fahrzeug zu Hause aufzuladen. In der Situation meiner Mutter könnte es auch vorkommen, dass die Stadt, in die sie häufig fährt, die Nutzung von Individualfahrzeugen verbietet oder zumindest einschränkt. Sie könnte dann zwar mit ihrem Fahrzeug, hoffentlich ihrem Elektroauto, zur Stadt fahren, aber nicht in die Stadt hinein; sie würde dann auf einen Robo-Shuttle umsteigen. Meiner Meinung nach wird sich also die Mobilität auf dem Land um 5 oder 10 Prozent verändern, während sie sich in den mittleren und größeren Städten dramatisch wandeln könnte.
Wie wichtig ist es, dass die verschiedenen Akteure und Anbieter zusammenarbeiten?
K. H.: Ich habe Anfang dieser Woche ein tolles Beispiel gesehen, bei dem ein Mikromobilitätsunternehmen sehr eng mit den Nahverkehrsbetrieben der Stadt zusammengearbeitet hat. Und dieses gemeinsame Pilotprojekt hat enorme Vorteile gebracht. Die Nutzerzahlen stiegen sowohl für das Scooter-Unternehmen als auch für die öffentlichen Verkehrsbetriebe. Die Nutzung von Privatfahrzeugen ging zurück, und auch die Staus nahmen in dieser Zeit ab. Meiner Meinung nach sollten wir diese Art der Zusammenarbeit öfter sehen.
Und gibt es Ihrer Meinung nach Entwicklungen, die mit großer Wahrscheinlichkeit in eine Sackgasse führen werden?
K. H.: Ich denke, es gibt einige Beispiele für Systeme, die stark infrastrukturbasiert sind. Autonome Fahrzeuge mit eigenen Fahrspuren machen meiner Meinung nach keinen Sinn. Ein anderes Beispiel ist das Aufladen von Lkws über Oberleitungen. Ich halte das für ein großartiges Konzept für Züge, aber für Lkws wird es vermutlich eine Nischenanwendung bleiben, weil man diese Art von Infrastruktur einfach nicht auf großen Straßenabschnitten einrichten kann. Also noch einmal: Alles, was stark infrastrukturbasiert ist und einen Nischenanwendungsbereich abdeckt, ist wahrscheinlich zum Scheitern verurteilt.
Werden die Lösungen, über die wir hier sprechen, nur den hoch technisierten Industriestaaten zugutekommen? Oder bietet die Mobilität der Zukunft auch Chancen für ärmere Länder?
K. H.: Viele aktuelle Innovationen in der Mobilität kommen nicht aus den Industrieländern, sondern aus anderen Ländern. Zum Beispiel Mitfahrgelegenheiten oder Ride-Pooling. Das ist in vielen Ländern in Südostasien und Afrika sehr, sehr verbreitet. Und in vielen Fällen sind sie dabei auch stark digitalisiert und nutzen für die Services das Smartphone.
Auf der anderen Seite sehen wir viele neue Mikroautos und kleinere Fahrzeuge. Zwei- und dreirädrige Fahrzeuge kommen aus Südostasien und Indien, denn in diesen Ländern kann sich nicht jeder ein Auto leisten. Es gibt also einige Lösungen aus Afrika, Südamerika und Südostasien, die wirklich hervorragend sind und uns wahrscheinlich sehr helfen würden, wenn wir sie hier umsetzen würden.