Müdigkeit und Ablenkung des Fahrers sind häufige Unfallursachen. Daher beinhalten moderne Human Machine Interfaces im Automotive-Bereich Systeme, die den Zustand der Insassen überwachen. Sie sind fester Bestandteil der Prüfprotokolle von Euro NCAP, der neuen europäischen Allgemeinen Sicherheitsverordnung für Fahrzeuge und verschiedener anderer Vorschriften auf der ganzen Welt.
Bis zum Jahr 2030 will die EU die Zahl der Verkehrstoten und -verletzten halbieren. Ein ehrgeiziges Unterfangen, das von der Vorgabe hochmoderner Fahrzeugtechnologien bis hin zur Modernisierung der Infrastruktur alles umfasst. Doch ein Faktor spielt dabei eine besonders große Rolle: der Mensch. Mehr als 90 Prozent aller Unfälle werden durch menschliche Fehler verursacht. Neben Verstößen wie Geschwindigkeitsüberschreitungen und Fahren unter Alkoholeinfluss spielt es eine wichtige Rolle, ob der Fahrer müde oder abgelenkt ist. Laut der Europäischen Kommission sind 10 bis 20 Prozent der Unfälle und Beinaheunfälle auf Müdigkeit zurückzuführen.
Warnsysteme vorgeschrieben
Um dieses Problem anzugehen, hat die Europäische Kommission im August 2021 eine Verordnung veröffentlicht, die seit Juli 2022 den Einsatz von Systemen zur Müdigkeits- und Aufmerksamkeitswarnung (Driver Drowsiness and Attention Warning: DDAW) vorschreibt. Sie bewerten die Wachsamkeit des Fahrers, indem sie andere Fahrzeugsysteme wie die Lenkung und die Spurhaltung analysieren, und warnen den Fahrer bei Bedarf.
Den Blick im Blick
Sich ausschließlich auf die Daten anderer Fahrzeugsysteme zu verlassen, reicht jedoch nicht unbedingt aus, um den Zustand eines Fahrers zu beurteilen. Daher müssen in der EU ab Mitte 2024 Neufahrzeuge mit einem sogenannten ,Advanced Driver Distraction Warning (ADDW) System‘ ausgerüstet sein. Die ADDW-Lösungen der ersten Generation stützten sich in erster Linie auf die Augenbewegungen des Fahrers: Eine Kamera mit CMOS-Bildsensor beobachtet dabei den Fahrer – mithilfe von unsichtbarem Infrarotlicht. „Das Infrarotlicht erzeugt eine Reflexion auf der Hornhaut des Auges, die von der Kamera eingefangen wird“, erläutert Martin Wittmann, Marketingleiter für den Bereich Sensorik bei OSRAM Opto Semiconductors. „Über die Verfolgung der Blickrichtung können wir sehen, ob der Fahrer den Blick auf die Straße gerichtet hat. Die Größe der Pupille zeigt zudem an, wie wach der Fahrer ist. Schließlich können wir auch an den Bewegungen der Augenlider erkennen, wenn der Fahrer müde wird.“ Ist dies der Fall, warnt das System den Fahrer und lenkt seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße.
Auch die Gesundheit wird überwacht
Müdigkeit oder mangelnde Aufmerksamkeit sind allerdings hochkomplexe Zustände, daher erfassen Lösungen der neuesten Generation neben der Augenbewegung weitere Parameter. So hat das Unternehmen Smart Eye in seine Fahrerüberwachungs-Software auch eine Erfassung der Vitaldaten integriert.
Mithilfe von KI-Methoden analysiert die neue Funktion mehrere physiologische Signale, um die Herz- und Atemfrequenz des Fahrers genau zu bestimmen. Smart Eye nutzt insbesondere die ,Remote-Photoplethysmographie (rPPG)‘, eine berührungslose, kamerabasierte Methode, die Schwankungen der Lichtreflexion von der Haut misst und so eine Schätzung der Herzfrequenz ermöglicht. Eine weitere Methode ist die Mikrobewegungsanalyse, die es der Software ermöglicht, subtile Veränderungen der mit der Atmung oder dem Puls verbundenen Bewegungen zu erkennen, die für das menschliche Auge nicht erkennbar sind. „Durch die Integration der Erkennung von Herz- und Atemfrequenz in die Software des Fahrerüberwachungssystems bieten wir einen noch tieferen Einblick in den Zustand und die Gesundheit des Fahrers“, sagt Henrik Lind, Chief Research Officer bei Smart Eye. Das kann sich als lebensrettend erweisen, wenn beispielsweise ein Fahrer einen Herzinfarkt oder Krampfanfall erleidet.
Radar, Kamera und KI kombiniert
Eine noch genauere Erfassung des Fahrerzustands erlauben Multisensorsysteme, wie sie zum Beispiel die drei Unternehmen emotion3D, Chuhang Tech und SAT gemeinsam entwickeln wollen. Dabei leitet die Software zur „Menschenanalyse“ von emotion3D Informationen über den Fahrer aus Kamerabildern ab, während die Radarlösungen von Chuhang Tech die Vitalparameter des Fahrers analysieren. Diese beiden Messmethoden werden mit den Algorithmen zur Vorhersage des Einschlafens von SAT kombiniert. Wogong Zhang, CTO und Mitbegründer von Chuhang Tech: „Wir glauben, dass unsere gemeinsame Lösung, die Radartechnologie mit fortschrittlichen Bildgebungsalgorithmen kombiniert, die Müdigkeitserkennung revolutionieren wird.“
Sicherheit für automatisiertes Fahren
Fahrerüberwachungssysteme werden vor allem im Hinblick auf die zunehmende Automatisierung des Fahrens immer wichtiger. Denn je autonomer ein Fahrzeug wird, umso besserer Sicherheitssysteme bedarf es – etwa um zu überwachen, ob ein Fahrer bereit ist, die Steuerung über das Auto in einer schwierigen Situation übernehmen zu können. „Gerade sehr gut und zuverlässig funktionierende Systeme insbesondere etwa in den Bereichen Abstandsregelung und Spurhalten verleiten aber viele Verkehrsteilnehmer dazu, sich auch anderen Aufgaben als dem Fahren zuzuwenden“, erklärte Jann Fehlauer, Geschäftsführer DEKRA Automobil, bei der Vorstellung des DEKRA Verkehrssicherheitsreports 2023. Mehrere schwere Unfälle seien schon die Folge einer solchen Fehleinschätzung gewesen.
Fahrerüberwachung stößt noch auf Ablehnung
Der Großteil der Fahrzeuglenkerinnen und -lenker steht einer elektronischen Überwachung der Fahrerin oder des Fahrers, dem sogenannten Driver Monitoring, zur Fahrerzustandserkennung noch skeptisch gegenüber. Das zumindest zeigt eine Studie des Versicherungsunternehmens Allianz. Danach stimmen lediglich 39 Prozent der Befragten einer Kamera- oder Infrarotabtastung von Augen, Gesicht oder Kopf zu, bei der die Technik anonymisiert nur Ablenkung erkennt. „Für das Driver Monitoring besteht noch Überzeugungsbedarf“, sagt Christoph Lauterwasser, Leiter des Allianz Zentrums für Technik. „Es soll dabei nicht um Bevormundung gehen, sondern um Unterstützung. Die neuesten Fahrzeug- und Verkehrstechniken ermöglichen es, Fahrerinnen und Fahrer bei Ablenkung zu warnen. Schon diese Rückmeldung kann zu einer positiven Verhaltensänderung beitragen. Das sollten wir nutzen, um den Straßenverkehr für uns alle sicherer zu machen.“
1,3 Millionen Menschen
sterben laut Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO jedes Jahr bei Verkehrsunfällen weltweit.
Bei Unfällen, in denen Ablenkung eine Rolle spielte, verletzten sich 2021 in Deutschland 8.233 Menschen, 117 starben, das sind knapp fünf Prozent aller Getöteten (2.562).
Quelle: Statistisches Bundesamt