Lieferketten müssen vom Endkunden her gedacht werden

Interview mit Jan-Peter ­Kleinhans vom Think Tank ­Stiftung Neue ­Verantwortung

Jan-Peter Kleinhans leitet seit 2020 den Themenbereich Technologie und Geopolitik bei der Stiftung Neue Verantwortung, einem überparteilichen, unabhängigen und gemeinnützigen Think Tank in Berlin. Sein Fokus liegt dabei auf der Analyse von Halbleitern als strategisches Gut, wie resilient die globale Halbleiter-Wertschöpfungskette gegenüber externen Schocks ist und wie die Wettbewerbsfähigkeit Europas gestärkt werden kann. 

Herr Kleinhans, ist es gerechtfertigt zu sagen, dass Halbleiter inzwischen die ­Bedeutung für die Volkswirtschaften ­haben, die bisher Erdöl hatte?

Jan-Peter Kleinhans: Wir haben sogar eine viel größere Relevanz. Gleichzeitig ist das Thema Halbleiter viel komplexer als ein Rohstoff. Allerdings zeigen diese Vergleiche, wie sehr unser politisches Denken noch im 19. Jahrhundert verwurzelt ist, wo man geopolitische Macht über Rohstoffe ausgeübt hat. Der Unterschied ist jedoch, dass man ­Erdöl hat oder nicht. Aber Halbleiter sind menschengemachte Technologie mit einer Wertschöpfungskette, die vollständig in privater Hand und global organisiert ist. Regierungen spielen da eigentlich gar keine Rolle. Daher können sie eigentlich auch nur Anreize geben, damit heimische Halbleiterunternehmen wettbewerbsfähiger werden oder eine stärkere Position in der Lieferkette haben. Aber sie können an den Machtverhältnissen selbst nur sehr wenig ändern. 

Muss die Politik also mehr in die Wertschöpfungsketten eingreifen?

J.-P. K.: Fundamental nein! Unter keinen Umständen ­sollten Halbleiter unter staatlicher Hand produziert werden, das wäre sicherlich verschwendetes Geld. Selbst ein Eingriff der Regierungen in die Wertschöpfungsketten ist eine Logik, unter der Europa bisher nicht operiert hat. 

Zunächst einmal sollten die Regierungen in Europa und auf der Welt die Halbleiter-Lieferketten besser ­verstehen, denn bei den durchschnittlichen politischen Entscheidungsträgern und -trägerinnen ist das Wissen über die ­Komplexität, die gegenseitigen Abhängigkeiten, über die Geschäftsbeziehungen und die Marktdynamiken sehr überschaubar. Es wird nicht verstanden, dass es die eine Chip-Knappheit nicht gibt, sondern dass es verschiedene Knappheiten an unterschiedlichen Punkten der Lieferkette aus unterschiedlichsten Gründen gibt. Sie alle ­bräuchten wiederum unterschiedlichste Regulierungskonzepte. ­Zumal bei vielen ­dieser Knappheiten Regierungen sowieso nichts tun ­können, um sie abzumildern. Denn am Ende des ­Tages sprechen wir über privatwirtschaftliche Geschäfts­beziehungen, bei denen von außen – wenn überhaupt – nur Anreize gesetzt werden können. Derzeit sind viele der ­Konzepte noch nicht mal halbgar, sondern wurden einfach aus anderen Ökosystemen, wie zum Beispiel der Impfstoffproduktion, auf die Halbleiter-Lieferkette übertragen. Das kann aber hier fundamental nicht funktionieren.

 

„Der Fokus sollte nicht ­darauf gerichtet sein, die nächste Knappheit abzuwenden, sondern man sollte sich auf die nächste Knappheit vorbereiten.“ 

 

Was kann denn die Politik machen, um die Lieferketten stabiler zu gestalten?

J.-P. K.: Zum einen sollte man sich geografisch diversifizieren. Die modernste Chip-Fertigung findet derzeit zu 90 Prozent in Taiwan statt und zu 10 Prozent in ­Südkorea. Es ist geopolitisch nicht nachhaltig und auch sicherlich nicht ­resilient, die Weltfertigung auf zwei Regionen zu ­fokussieren. Insofern ist die Diversifizierung von Fertigung auch über Subventionen ein nachvollziehbarer Schritt, ­damit ­man in zehn Jahren zwar nicht unabhängig von Asien ist, aber zumindest ein gewisser Prozentsatz auch in den USA oder in Europa stattfindet. 

Jetzt ist ja die Struktur, die wir heute haben, nicht umsonst entstanden. Kann man so was durch Subventionen überhaupt auffangen?

J.-P. K.: Subventionen beschleunigen nicht eine technologische Aufholjagd. Ich denke, dass man das in Europa und den USA auch erkannt hat. Man ist sich durchaus bewusst, dass man modernste Fertigung – also derzeit fünf ­Nanometer, zukünftig dann vier oder zwei Nanometer – nur mit internationalen Partnern hinbekommen wird. Das heißt, dass Intel oder TSMC hier in Europa die Fertigung ansiedeln. Allerdings fokussiert sich der politische Diskurs sehr stark auf diesen einen Produktionsschritt und auf eine bestimmte Fertigungsart, nämlich Cutting-Edge-Fabs. Aber die Wertschöpfungskette ist natürlich deutlich tiefer und komplexer. Und es gibt darin Bereiche, in denen Europa schon sehr starke Positionen innehat. Es spricht aber auch nichts dagegen, dass in den nächsten zehn Jahren europäische Unternehmen zum Beispiel beim Chip-­Design aufholen und eine stärkere Marktposition einnehmen ­können. 

Die Frage bei dem Ganzen ist – wo liegt der Schwerpunkt? Will ich mehr Marktanteil für europäische Unternehmen, will ich Technologieführerschaft oder Versorgungssicherheit? Aber was bringt ein höherer Marktanteil für die ­Versorgungssicherheit? Das hat doch miteinander nichts zu tun. US-amerikanische Unternehmen waren doch auch von der Chip-Knappheit massiv betroffen, obwohl sie über 50 Prozent der Halbleiterindustrie ausmachen. Mal ein ­Beispiel: Wenn ich hunderte Chips in einem modernen Auto brauche, dann reicht es, wenn eine Handvoll dieser Chips nicht lieferbar sind – schon kann ich das Auto nicht herstellen. Was bringt es also, wenn 20 Prozent dieser Chips in Europa gefertigt werden, die anderen 80 Prozent aber immer noch fehlen? Marktanteil und Versorgungs­sicherheit haben nichts miteinander zu tun, werden politisch aber vermischt. 

Was halten Sie also vom EU-Chips-Act?

J.-P. K.: Der EU-Chips-Act ist die geopolitische Antwort, die kommen musste. Er ist aber auch mit heißer Nadel gestrickt. Grundsätzlich teilt er sich in drei Säulen auf: ­Forschungsförderung, Investitionen und Subventionen in die Fertigung sowie Krisenmanagement und Monitoring.  

Die Forschungsförderung ist viel Standardwerk, wie es sich für Europa gehört. Das ist nicht verkehrt, aber Europa ist in der Forschung schon stark und wir haben bereits führende Halbleiter-Forschungs­organisationen, wie imec in Belgien, ­Fraunhofer in Deutschland oder CEA-Leti in Frankreich. Bei der zweiten Säule, der Subventionierung von Fertigung, hat sich der Fokus inzwischen ein bisschen erweitert. Man hat verstanden, dass es nicht nur um Zwei-Nanometer-Fabs geht, sondern dass auch andere Produktionsarten innovativ und sinnvoll sein können. Zum ­Beispiel rund um neue Materialien wie ­Siliziumkarbid oder Galliumnitrid. Aber auch speziell bei diesen Materialien sind europäische Unternehmen schon stark. In der dritten Säule sind gerade beim Thema Krisenmanagement viele Mechanismen drin, die so garantiert nicht funktionieren werden. Zum Beispiel, dass Europa eine gemeinsame Kaufkraft wie bei der Impfstoffbeschaffung nutzt oder in Zeiten von Chip-Knappheiten priorisiert Bestellungen aussprechen kann – das funktioniert nicht bei ­einem diversen Produkt wie Halbleitern. 

Sie haben in einem Deutschlandfunk-­Interview gesagt, man solle sich lieber auf das Design der Chips konzentrieren. Aber wie trägt das zu einer resilienten Lieferkette bei?

J.-P. K.: Überhaupt nicht. Das meinte ich genau vorhin: Ich habe völlig unterschiedliche politische Ziele. Wenn es mir um Versorgungssicherheit geht, dann brauche ich nicht meinen Marktanteil erhöhen, sondern muss zusehen, dass ich zum einen über internationale Partnerschaften, zum anderen über mehr Fertigung im eigenen Land meine Versorgungssicherheit verbessere. Aber da ist es egal, welche Rolle die Halbleiterunternehmen am Weltmarkt spielen. 

Wenn es mir aber um diese im EU Chips Act proklamierten 20 Prozent Weltmarktanteil geht, dann muss ich auf ­Produktionsschritte setzen, die einen hohen Wertschöpfungsanteil haben, und in neue europäische Halbleiterunternehmen investieren. Den höchsten Wertschöpfungsanteil von allen Prozessschritten hat aber das Chip-Design. Ungefähr 50 Prozent des Wertschöpfungsanteils liegt im Chip-Design, ungefähr 20, 25 Prozent im Front-End-Manufacturing und dann noch ungefähr 5 bis 10 Prozent im Back-End-Manufacturing. 

Wenn es um Marktanteil, um Wett­bewerbsfähigkeit und darum geht, wieder in Europa Technologie mitzugestalten, dann stellt sich eben nicht die Frage der Versorgungssicherheit. Dann brauch ich erstmal Unternehmen, die diese Chips entwickeln. Und dann ist es egal, ob der in Europa entwickelte KI-Beschleuniger in Taiwan oder in Südkorea gefertigt wird, weil er in Europa entwickelt wurde. Und somit der Großteil der Wertschöpfung bei dem europäischen Unternehmen bleibt. Genau das, die Unterscheidung zwischen Versorgungssicherheit und technologischer Wettbewerbsfähigkeit, ist aber politisch als Ziel verschwommen. 

Ist der EU-Chip-Act also viel zu komplex für das, was man will?

J.-P. K.: Ich würde nicht sagen, dass er zu komplex ist. Aber es gibt keine Klarheit über das Ziel. Das fängt schon im Kleinen an: Manchmal wird über 20 Prozent Fertigungsanteile, also Wafer-Capacity, gesprochen und manchmal über 20 Prozent Marktanteil. Es sind aber zwei völlig unterschiedliche Paar Schuhe. Als Beispiel: Die USA haben ungefähr 50 Prozent Marktanteil, aber nur 12 Prozent Fertigungsanteil. Taiwan ist genau das Gegenteil. Taiwanesische Unternehmen halten ungefähr sieben Prozent des Halbleitermarktes global, aber ungefähr 22 Prozent der Fertigungskapazität. 

Die zweite Falle ist das Thema Versorgungssicherheit. Auch wenn zusätzliche Fertigungs-Kapazitäten in Europa aufgebaut werden, dann wird auch in diesen Fabs weiterhin transnational operiert. Das heißt, auch die zukünftige Fab in Dresden oder Magdeburg wird auf japanische ­Chemie, US-amerikanisches Equipment und Wafer aus Taiwan ­angewiesen sein. Also wäre auch die Fab in Dresden oder Magdeburg betroffen, wenn es zu Versorgungsproblemen in Japan, den USA oder Taiwan kommt. Daher sollte nicht der Fokus darauf gerichtet sein, die nächste Knappheit ­abzuwenden, sondern man sollte sich in allen abhängigen ­Lieferketten auf die nächste Knappheit vorbereiten. 

Dazu muss die Endanwender-Lieferkette angepasst werden, also die Automotive-Lieferkette oder die Medizingeräte-Lieferkette. Damit rückt zum Beispiel das Thema strategische Lagerhaltung in den Fokus. Aber da sieht man auch ohne Regierungs-Aktivität schon Bewegung in den verschiedenen Anwender-Industrien. Im Automotive-Bereich gibt es zum Beispiel Initiativen wie Catena-X, die eine bessere Visibilität und Transparenz in die Lieferkette bringen soll.

 

„Marktanteil und Versorgungssicherheit haben nichts miteinander zu tun, werden politisch aber ­vermischt.“ 

 

Also muss eine resiliente Lieferkette von den Endkunden her gedacht werden?

J.-P. K.: Zu 100 Prozent. Zumal die Kapazitäten, die ­aktuell überall auf der Welt neu aufgebaut werden, vor allem ­Cutting-Edge-Kapazitäten zur Produktion von High-End-Chips wie den Fünf-Nanometer-Chip sind. Es fehlen heute aber vor allem Chips älterer Fertigungstechnologien – 40 Nanometer und aufwärts. Für die Foundries gibt es aber ökonomisch kaum Anreize, in ältere Fertigungs-­Technologien zu investieren, weil die bereits komplett ­abgeschrieben sind. Wenn man jetzt versucht, mit einer neu gebauten 40-Nanometer-Fab, die nicht abgeschrieben ist, im Preis zu konkurrieren, ist das nicht zu schaffen. 

Anders sieht es aus, wenn die Halbleiterkunden die Fab-Betreiber im Voraus bezahlen. Genau das macht zum Beispiel UMC: Die haben sich eine komplette 28-­Nanometer-Fab von ihrem Kunden vorfinanzieren lassen. Damit hat der Kunde aber auch eine garantierte Kapazität. Egal was am Weltmarkt passiert, er erhält die vorab bezahlten ­Wafer, komme was wolle.

Dadurch haben wir eine Verschiebung des Risikos. ­Vorher lag es beim Halbleiterhersteller. Wenn es Nachfrageschwankungen gab, wurden Bestellungen gecancelt und der Auftragsfertiger blieb auf nicht genutzter Kapazität sitzen. Jetzt verschiebt sich das Risiko und wird durch den Auftraggeber getragen. Das kann keine Regierung durch Regulierung herbeiführen.

Wird es die Industrie denn schaffen, die Lieferketten resilienter zu machen? Oder muss man doch immer wieder ­damit ­rechnen, dass es zu einer Knappheit ­kommen kann?

J.-P. K.: Wir müssen immer wieder damit rechnen. Auch weil es genauso wie überall auch im Halbleiterbereich ­irrationales Verhalten gibt. Auch hier gab es zwischen dem ersten Quartal 2020 und dem dritten Quartal 2021 Hamsterkäufe. Das wird auch eine Regulierung nicht verhindern. Irrationales und egoistisches Verhalten am Markt wird immer zu Nachfrage-Schwankungen in der Lieferkette und damit zu Knappheiten in der Fertigung führen. Denn dadurch wird es immens schwer, die ­zukünftige Nachfrage zu kalkulieren und die notwendigen Investitionen in Fertigungskapazitäten für die Zukunft zu planen. 

Genau deswegen ist es so wichtig, den Blick zu weiten. Natürlich können wir viel innerhalb der Halbleiter-Lieferkette machen – sie muss gestärkt, sie muss diversifiziert werden. Aber wir müssen uns auch die Endanwender-Industrien anschauen und sie dazu bringen, auch ihre ­Lieferketten resilienter zu machen. Der Blick auf die Endanwenderindustrien und auf die Verantwortung, die sie tragen, ist essenziell, um zukünftige Chip-Knappheiten besser zu meistern.